Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass der Bund nicht berechtigt war, verbindliche Regeln zur sogenannten Triage festzulegen – also dazu, wie Ärztinnen und Ärzte entscheiden sollen, wer bei zu wenigen Intensivbetten zuerst behandelt wird. Solche Entscheidungen greifen tief in die ärztliche Freiheit ein und dürfen laut Grundgesetz nur geregelt werden, wenn der Bund dafür eine klare Zuständigkeit hat. Diese sieht das Gericht hier nicht. Künftig müssen daher die Bundesländer solche Regeln machen, wenn sie nötig sind. Das Urteil zeigt: Auch in Krisenzeiten darf der Bund nicht einfach Zuständigkeiten an sich ziehen.
Verfassungsgericht erklärt § 5c IfSG für nichtig
Mit Beschluss vom 23. September 2025 (veröffentlicht am 4. November) hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts die im Jahr 2022 eingeführten Triage-Regelungen (§ 5c IfSG) für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Der Bund habe mit der Regelung überlebenswichtiger Behandlungsprioritäten bei Ressourcenknappheit in unzulässiger Weise in die ärztliche Berufsausübung eingegriffen – ohne dafür eine hinreichende Gesetzgebungskompetenz zu besitzen.
Die Entscheidung erging mit 6:2 Stimmen und betrifft zentrale Fragen ärztlicher Entscheidungsfreiheit unter Extrembedingungen.
Kein Infektionsschutz, keine Kompetenz
Kern der Entscheidung ist die fehlende Kompetenz des Bundes. § 5c IfSG wurde zwar im Kontext der Pandemiebekämpfung eingeführt, diene aber nicht der Eindämmung oder Vorbeugung übertragbarer Krankheiten, so das Gericht. Vielmehr handle es sich um eine reine Regelung der Folgelast – also um ein sogenanntes „Pandemiefolgenrecht“. Dieses fällt nicht unter den Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG („Maßnahmen gegen übertragbare Krankheiten“).
Die Norm regele nicht das „Wie“ der Behandlung zur Krankheitsbekämpfung, sondern das „Wer“ – also die Auswahl zwischen Patienten bei Ressourcenknappheit. Das ist, so die Richter, nicht Aufgabe des Bundes.
Therapiefreiheit schützt auch in der Krise
Neben der fehlenden Kompetenz erkennt das Gericht einen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Ärztinnen und Ärzte (Art. 12 Abs. 1 GG). Die Regelung in § 5c IfSG begrenze die therapeutische Entscheidungsfreiheit in Situationen extremer Verantwortung. Dass der Gesetzgeber Rechtssicherheit schaffen wollte, rechtfertige diesen Eingriff nicht. Vielmehr verlagere er medizinische Verantwortung in ein gesetzliches Raster, das mit dem Grundrechtsschutz der Berufsgruppe unvereinbar sei.
Föderale Struktur gilt auch im Ausnahmefall
Eine übergreifende Bundeskompetenz kraft Natur der Sache lehnte das Gericht ebenfalls ab. Auch wenn eine bundeseinheitliche Lösung in der Praxis vorteilhaft wäre, reicht Zweckmäßigkeit nicht aus, um eine Bundeszuständigkeit zu begründen. Die Verantwortung für diskriminierungssensible Allokationsentscheidungen liegt damit im föderalen System primär bei den Ländern – auch in pandemischen Ausnahmelagen.
Kein Kompetenzautomatismus durch Krise
Die Karlsruher Entscheidung markiert eine klare verfassungsrechtliche Grenzziehung. Auch hochsensible Regelungsanliegen wie die Triage dürfen nicht am Kompetenzgefüge des Grundgesetzes vorbei geregelt werden. Rechtssicherheit und Gleichbehandlung sind legitime Ziele – aber sie müssen im Rahmen der föderalen Zuständigkeiten erreicht werden. Für den Bund bedeutet das: Struktur geht vor Steuerung. Und für die Länder: Verantwortung ist nicht delegierbar.
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