Das Landgericht Berlin hat mit Urteil vom 30. April 2025 (Az. 4 O 177/23) ein zentrales Leistungsversprechen in der privaten Altersvorsorge gestärkt: Der Rentenfaktor darf nicht einseitig zulasten der Kunden herabgesetzt werden. Die Allianz Lebensversicherung muss ihre Praxis der nachträglichen Rentenkürzung bei fondsgebundenen Riester-Renten aufgeben.
Vertragsklausel gekippt: Rentenfaktor bleibt verbindlich
Im Mittelpunkt des Verfahrens stand ein Riester-Vertrag, bei dem der ursprünglich garantierte Rentenfaktor von 41,05 Euro je 10.000 Euro Vertragsguthaben nachträglich reduziert wurde. Das Berliner Landgericht erklärte sowohl die Kürzung als auch die zugrunde liegende Klausel für unwirksam. Die Richter betonten, dass der Rentenfaktor ein fest zugesagter Bestandteil des Versicherungsvertrags sei – und damit rechtlich bindend.
Die Verbraucherkanzlei Dr. Stoll & Sauer, die die Klage erfolgreich führte, wertet das Urteil als „richtungsweisend“ im Kampf gegen intransparente Rentenkürzungen. Mit einem kostenlosen Online-Check bietet die Kanzlei betroffenen Kunden nun rechtliche Ersteinschätzungen an.
AGB-Recht verletzt: Fehlende Rückanpassung bemängelt
Besonders kritisch beurteilte das Gericht die einseitige Ausgestaltung der Vertragsbedingungen. Die betreffende Klausel (§ 1 Abs. 3 AVB) sehe lediglich Kürzungen, nicht aber Erhöhungen des Rentenfaktors vor – selbst bei verbesserten wirtschaftlichen Bedingungen. Dies sei laut Gericht mit dem AGB-Recht nicht vereinbar und führe zur Unwirksamkeit der Klausel. Versicherungsnehmer hätten zudem keine effektive Möglichkeit gehabt, die Verluste durch Zuzahlungen zu kompensieren – auch das verstößt laut Urteil gegen das Prinzip des Vertragsausgleichs.
Gericht rügt „missbräuchliche Interessenwahrnehmung“
In seiner Urteilsbegründung spricht das LG Berlin von einer „missbräuchlichen Wahrnehmung eigener Interessen“ durch die Allianz. Die Klausel sei so gestaltet gewesen, dass sie ausschließlich dem Unternehmen diene, während die Kunden keine Aussicht auf eine Verbesserung ihrer Leistungsansprüche gehabt hätten. Dieses strukturelle Ungleichgewicht sei rechtswidrig und unzumutbar.
Orientierung am OLG Stuttgart: Einheitliche Rechtsprechung zeichnet sich ab
Das Berliner Urteil ist kein Einzelfall. Bereits am 30. Januar 2025 hatte das Oberlandesgericht Stuttgart (Az. 2 U 143/23) eine nahezu identische Vertragsgestaltung bei einem anderen Versicherer für unzulässig erklärt. Das LG Berlin übernimmt die Argumentation des OLG nahezu vollständig und unterstreicht damit die wachsende juristische Einigkeit: Vertragsklauseln, die ausschließlich Leistungskürzungen zulassen, sind mit geltendem Recht nicht vereinbar.
Die Bezugnahme auf das OLG Stuttgart verleiht dem Berliner Urteil zusätzliche Tragweite – es signalisiert Versicherern bundesweit, dass die Ära der einseitig manipulierbaren Rentenfaktoren vor dem Aus steht.
Auswirkungen auf die Versicherungsbranche: Zehntausende Verträge betroffen
Nach Einschätzung von Dr. Stoll & Sauer könnten zehntausende Versicherungsverträge von ähnlich gestalteten Klauseln betroffen sein. Viele Kunden haben jahrelang Beiträge entrichtet – in der Annahme, eine verlässliche Altersvorsorge aufgebaut zu haben. Stattdessen wurden sie mit intransparenten und nachträglichen Leistungskürzungen konfrontiert.
Das Urteil aus Berlin dürfte nun zahlreiche Versicherungsnehmer motivieren, ihre Verträge überprüfen zu lassen – insbesondere solche mit fondsgebundenen oder kapitalmarktorientierten Komponenten. Neben der Rücknahme der Kürzung könnten auch Schadensersatzforderungen geltend gemacht werden.
Ein klarer Appell an die Branche
Das Berliner Urteil ist mehr als eine juristische Entscheidung – es ist ein Appell an Fairness und Vertragstreue in der Altersvorsorge. Der zugesicherte Rentenfaktor darf nicht zur betriebswirtschaftlichen Verfügungsmasse werden. Lebensversicherer sind nun gefordert, ihre Vertragsbedingungen rechtssicher und verbrauchergerecht zu gestalten.
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