Auswirkungen naturbezogener Risiken auf die Versicherungswirtschaft

Naturbezogene Risiken können die Wirtschaft und die Finanzstabilität gefährden. Im Arbeitspapier „On nature-related risks and impacts for insurance“ identifiziert die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA) erste Ansätze für das Management dieser Art von Risiken durch die Assekuranz.

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Medical technology network concept . Mixed mediaMedical technology network concept . Mixed mediaSergey Nivens – stock.adobe.com

Wie eng Klimawandel und naturbedingte Risiken zusammenhängen, setzt sich im allgemeinen Verständnis erst langsam durch. Bei naturbedingten Risiken handelt es sich beispielsweise um den Verlust der biologischen Vielfalt, auch Biodiversität genannt, oder die Schädigung von Ökosystemen.

Fehler bei der Berücksichtigung, Minderung und der Anpassung an die Folgen des Naturverlusts können die Wirtschaft und die Finanzstabilität in großem Ausmaß gefährden. In ihrem Arbeitspapier zitiert EIOPA Schätzungen wonach

  • mehr als die Hälfte des globalen Brutto-Inlandsprodukts von der Natur abhängen,
  • mehr als 75 Prozent der weltweiten Arten von Nahrungspflanzen auf die Bestäubung durch Tiere angewiesen sind, und
  • der Verlust der Biodiversität global jährlich zwischen 1,7 und 3,9 Billionen Euro kostet.
  • Neben der Absichtserklärung der Europäischen Kommission zum Erhalt der Natur (Juni 2022) erinnert die EIOPA in ihrem Arbeitspapier zudem an das Global Biodiversity Framework zur Sicherung von Biodiversität und Ökosystemen. Auf der UN-Biodiversitätskonferenz von Kunming-Montreal (COP15) hatte sich die Staatengemeinschaft zum Schutz von Biodiversität und Ökosystemen bis 2050 und „Naturfinanzierungen“ verpflichtet.

    Da die Natur sowohl als wichtiger Faktor im Kampf gegen den Klimawandel wie auch als Quelle für körperliches und geistiges Wohlbefinden betrachtet werden könne, sei es wichtig, zu überlegen, welchen Beitrag der Versicherungssektor zur Wiederherstellung und Erhaltung der Natur durch Anlage- und Emissionstätigkeit leisten könne, schreiben die Aufseher. Als Teil ihrer eigenen nachhaltigen Finanzstrategie will die EIOPA zudem bewerten können, wie sich naturbedingte Risiken auf die Bilanzen und Unternehmen im Allgemeinen von (Rück-)Versicherern auswirken.

    Versicherbarkeit und Risikobewertung

    Aufbauend auf Forschungsarbeiten von unter anderem dem Sustainable Insurance Forum (SIF) und dem Network for Greening the Financial Sector (NGFS) werden die Übertragungswege naturbedingter Risiken in Gesellschaft und Wirtschaft und die Beziehung zwischen klima- und naturbedingten Risiken beschrieben.

    Im Hinblick auf die Versicherbarkeit und Risikobewertung werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der zuweilen synonym verwendeten Begriffe natur- (nature-related) und klimabezogene (climate-related) Risiken sowie Umweltrisiken (enviroment) aufgelistet.

    Danach sind naturbedingte Risiken nicht identisch mit Naturgefahren, die aufgrund des Klimawandels immer häufiger und intensiver auftreten. Der Rückgang der Biodiversität kann erhebliche Auswirkungen auf die Fähigkeit von Ökosystemen haben, das Klima und natürliche Prozesse zu regulieren. Das naturbedingte Risiko ist multidimensional, was bedeutet, dass bei der Prävention oder Wiederherstellung komplexe Wechselwirkungen innerhalb eines Ökosystems zu berücksichtigen sind.

    Für die Versicherbarkeit heißt dies, dass es hier nicht wie bei einer Naturkatastrophe um ein großes unvorhersehbares Ereignis geht, sondern um eine Vielzahl ökologischer, oft lokaler Prozesse, die zu Biodiversitätsverlusten führen. Dies könne eine genauere Disaggregation von Risiken und umfassende komplexe Daten erfordern.

    Naturbedingte Risiken können die Risikokonzentration einer Region erhöhen. Der Zusammenbruch von systemrelevanten Biomen – wie dem Amazonas-Regenwald – hätte potenziell weiterreichende systemische Auswirkungen und würde eine Risikostreuung unmöglich machen, heißt es.

    EIOPA gibt Beispiele, wie die Kapitalanlagestrategie und das Underwriting ausgestaltet sein können, um Ökosysteme und Biodiversität zu schützen. Ziel sind naturbasierte Anlage- oder Emissionstätigkeiten für die Finanzierung oder die Deckung von Risiken für Tätigkeiten im Zusammenhang mit

  1. dem Schutz und Erhalt von Natur und Biodiversität,
  2. nachhaltiger Landnutzung und -bewirtschaftung
  3. nachhaltigen landwirtschaftlichen Praktiken
  4. nachhaltiger Waldbewirtschaftung.
  5. Ein erster Schritt

    Die Aufsicht will ihr Arbeitspapier als ersten Schritt im Prozess um das Management naturbedingter Risiken und Auswirkungen verstanden wissen. Bislang stellen der regulatorische Rahmen von Solvency II und die Anforderungen an das Risikomanagement allgemein auf das Management von ESG-Risiken ab. Wird ein naturbedingtes Risiko als wesentlich angesehen, sollte es konzeptionell ähnlich behandelt werden wie andere umweltbezogene Risiken (zum Beispiel Klimawandel), raten die Aufseher in Kapitel 5. Im Hinblick auf mögliche Wechselbeziehungen zwischen einigen naturbedingten Risiken und Klimarisiken sei dies besonders wichtig.

    Die nächsten Initiativen der Aufsicht konzentrieren sich auf die relevanten Datensätze und Tools für die Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen. Zu diesem Zweck unterstützt EIOPA den offenen Zugang zu Daten und die Entwicklung von Szenarien und Modellierungen, die eine vorausschauende Risikobewertung naturbezogener Risiken ermöglichen. Perspektivisch sollen naturbezogene Risiken auch Eingang in die Wesentlichkeitsbewertungen und das ORSA der Unternehmen finden.

    EIOPA hat eine Diskussion zu ersten Überlegungen für eine aufsichtsrechtliche Regulierung der Kapitalanforderung für naturbezogene Risiken eingeleitet. Die Messung der potenziellen Auswirkungen von naturbedingten Risiken auf die Bilanzen sei aufgrund von Problemen bei Daten, Risikoindikatoren sowie dem Fehlen gemeinsamer Szenarien immer noch herausfordernd. Deshalb sei es unwahrscheinlich, dass sich eine auf Säule I basierende aufsichtsrechtliche Behandlung naturbezogener Risiken in Kürze entwickeln werde.

    Der Umgang mit der Biodiversität in der Praxis

    Naturbezogene Risiken sind dem deutschen Versicherungssektor nicht neu. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) hat schon in ihrem 2019 veröffentlichten Merkblatt zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken darauf hingewiesen, dass der „Verlust der Biodiversität (…) ebenso schwerwiegende finanzielle Auswirkungen haben (Red.: könnte) wie der Klimawandel“.

    Der „Schutz der biologischen Vielfalt“ und der „Schutz gesunder Ökosysteme“ werden den beaufsichtigten Instituten explizit als Beispiele für ESG-Risiken genannt, die sie berücksichtigen sollen. Das Merkblatt versteht sich als verbindliche Regelung, wie Versicherer Nachhaltigkeitsrisiken in ihren Strategien, der Unternehmensführung und im Risikomanagement abbilden sollten.

    Das „BaFin Journal“ berichtete 2021 in seiner Dezember-Ausgabe über eine Studie des Sustainable Insurance Forum (SIF) zu naturbezogenen Risiken im Versicherungssektor, an der auch die deutsche Aufsicht beteiligt war. Das beim Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) angesiedelte SIF beschreibt unter anderem am Beispiel des Insektensterbens, wie sich naturbezogene Risiken über die Realwirtschaft (Rückgang bestäubter Pflanzen, rückläufige Ernten) auf die Finanzwirtschaft (Rückgang von Börsenkursen landwirtschaftlicher Firmen) auswirken können.

    Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV) begrüßte das Arbeitspapier der EIOPA, sieht sich selbst aber schon weiter. „Die Aufsicht setzt damit einen wichtigen und frühzeitigen Impuls. Der Versicherungssektor kann und wird seinen Beitrag leisten, damit die Risiken durch weitere Verluste von Biodiversität nicht noch größer werden. Anders als beim Thema CO2-Reduktion stehen die Arbeiten zu Biodiversität erst am Anfang. Die Bedeutung der Biodiversität für das Finanzsystem wird langsam klarer, viele Fragen sind aber offen,“ kommentierte GDV-Hauptgeschäftsführer Jörg Asmussen. „Künftig soll sowohl bei den Investitionen der Versicherer als auch bei der Zeichnung von Risiken darauf geachtet werden, dass die natürlichen Lebens- und Wirtschaftsgrundlagen bewahrt werden."

    In ihrem ArbeitspapierAccounting for Biodiversitystellt ADM Capital eine eigene Biodiversitäts- und Naturkapitalrechnung für die Privatkreditvermittlung als Praxisbeispiel dar. Es geht um Metriken für die laufende Entwicklung des Asia Climate-Smart Landscapes Fund (ACLF), der klimafreundlich investiert und weitere ESG-Ziele verfolgt.

    Mit unterschiedlichen Tools – von der Geodatenanalyse bis hin zur künstlichen Intelligenz – wird versucht, die Auswirkungen von Investitionen in die Biodiversität, die Risiken des Verlusts der Biodiversität und positive Anlagestrategien messbar und international vergleichbar zu machen. Am Schluss folgen die Investitionsentscheidungen einer „Minderungshierarchie“ – von Vermeidung, Minimierung, Rehabilitation/Wiederherstellung bis hin zur Kompensation aller verbleibenden negativen Auswirkungen.

    Der Prozess der Biodiversitätsbilanzierung umfasst die Bestandsaufnahme des Ausgangszustands des Ökosystems, setzt einen Rahmen für die Überwachung künftiger Auswirkungen oder Fortschritte, identifiziert vorrangige Maßnahmen der Projekte und benennt Managementstrategien zur Maximierung des Nutzens für die Biodiversität.

    Der Ansatz verwendet zwei Analyseebenen:

  • die High-Level-Momentaufnahme, die kurzfristig für alle Projekte die gleichen Metriken (zum Beispiel das Integrated Biodiversity Assessment Tool (IBAT) der IUCN-Plattform) ansetzt, und
  • die detaillierte Bilanzierung und Überwachung der Biodiversität, die mittel- bis längerfristig für den jeweiligen Kontext spezifische Verfahren (z. B. High Conservation Value und High Carbon Stock (HCV-HCS)-Ansatz, Arbeiten mit Geodaten) anwendet.
  • Während sich die Bemühungen um mehr Klimafreundlichkeit im Wesentlichen am Ausstoß von Kohlendioxid messen lassen, fehlt es im Bereich Biodiversität sowohl an einem Hauptindikator wie auch an standardisierten Metriken zur Quantifizierung von Zielen.

    Als größte Hürde beim Umgang mit Chancen und Risiken in diesem Bereich nennen in der gemeinsamen Studie Von Net Zero zu Nature Positivevon WWF und PwC Deutschland die befragten Banken, Versicherungen und Asset Manager eine geringe Datenverfügbarkeit und noch nicht standardisierte Metriken zur Quantifizierung von Zielen. Initiativen wie die Taskforce on Nature-related Financial Disclosures (TNFD), Science Based Targets for Nature (SBTN) oder Partnership for Biodiversity Accounting Financials (PBAF) arbeiten an Tools und Leitfäden.

    Die EIOPA empfiehlt in ihrem Arbeitspapier, Investitionstätigkeiten mit dem Corporate Biodiversity Footprint (CBF) auf mögliche Verschlechterung der Biodiversität zu untersuchen. Die Auswirkungen auf die Biodiversität werden in „Mean Species Abundance“ (MSA) ausgedrückt, sprich: die durchschnittliche, relative Häufigkeit einheimischer Arten in einem Ökosystem im Vergleich zu ihrer Häufigkeit in ungestörten Ökosystemen. Bei einem MSA-Wert von 100 Prozent wäre die Biodiversität im betrachteten Ökosystem entsprechend der im ursprünglichen Natur-Zustand.

    Der oben dargestellte Ansatz von ADM Capital setzt im Wesentlichen die Metrik „Species Threat Abatement Restoration“ (STAR) ein. Diese Methodik verwendet die Daten der Roten Liste, um das Risiko des Aussterbens potenziell bedrohter Arten, gewichtet nach ihrem Bedrohungsstatus, zu bemessen. Dazu wird über ein globales Raster für Pixel von 5 x 5 km² das Risiko der Bedrohungen jeder einzelnen Art dargestellt.

    Mit der STAR-Metrik können zwei Werte berechnet werden. Der Wert STAR-T stellt das geschätzte Potenzial dar, die Bedrohung des Artensterbens zu verringern, indem intakte Lebensräume erhalten werden („thread abatement“). Mit STAR-R kann wiederum das Ausmaß der Verringerung des Risikos des Artensterbens durch die Wiederherstellung von Lebensräumen abgeschätzt werden („restoration“).

    Da viele Versicherer ihre Kapitalanlageportfolios bereits nach umweltbezogenen KPIs (zum Beispiel CO2-Intensität) oder Performance Scores (beispielsweise von ESG-Ratingdatenanbietern) steuern, wäre eine Verwendung dieser Metriken ebenfalls denkbar. Dazu ist jedoch an vielen Stellen eine größere Datengrundlage sowie spezifisches Know-how notwendig. Während die Anwendbarkeit für breite Portfolios zurzeit noch begrenzt sein mag, können Metriken wie MSA oder STAR dennoch bei einzelnen Projektfinanzierungen betrachtet werden.

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