Warum Europas digitaler Tiefschlaf enden muss – und wie der „AI Continent“-Plan zum Wendepunkt werden kann

Die Frage ist unbequem – aber notwendig: Hat Europa die digitale Transformation verschlafen? Lange galt der Kontinent als Meister der Regulierung, während andere in Innovation investierten. Die Folge: Ein wachsender technologischer Rückstand, der Europas digitale Souveränität gefährdet. Mit dem „AI Continent Action Plan“ will die EU nun gegensteuern. Der Plan ist ambitioniert – doch entscheidend ist, ob Europa den eigenen Worten endlich Taten folgen lässt.

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Europas digitaler Tiefschlaf muss ändern.Europas digitaler Tiefschlaf muss ändern.DALL-E

Vom Regelsetzer zum Technologiemotor?

Brüssel war in den letzten Jahren oft schneller mit Gesetzen als mit Investitionen. DSGVO, Digital Markets Act, der neue AI Act – all das soll Vertrauen schaffen. Doch Vertrauen allein baut keine Basismodelle. Während Europa regulierte, bauten Unternehmen wie OpenAI, Google oder Microsoft KI-Systeme, die heute globale Standards setzen. Die zugrundeliegenden Supercomputer stehen nicht in Europa, sondern in den USA. Und die Daten? Sie fließen über Plattformen, die europäischen Anforderungen meist nur nachträglich angepasst werden.

Der digitale Rückstand ist real – und in Zahlen messbar: Microsoft allein plant für das Fiskaljahr 2025 Investitionen von rund 80 Milliarden US-Dollar in KI-Infrastruktur . Europas Innovationsökosystem verliert Talente und Potenziale an dynamischere Märkte. Auch viele Start-ups scheitern an fehlender Skalierung, Kapital oder Infrastruktur.

Der Plan: KI-Großprojekte für einen Kontinent

Der neue „AI Continent“-Plan der EU-Kommission markiert einen industriepolitischen Kurswechsel. Europa will sich aus der Zuschauerrolle befreien und technologisch wieder auf Augenhöhe agieren – durch strategische Großprojekte:

  • Fünf KI-Gigafabriken mit massivem Rechenvolumen sollen europäische Basismodelle ermöglichen .
  • 13 AI-Factories als dezentrale Innovationszentren bieten Start-ups, Forschungseinrichtungen und Unternehmen Zugang zu Supercomputing und Dateninfrastruktur.
  • Eine neue „Data Union“ soll hochwertige, vertrauenswürdige Daten verfügbar machen.
  • Über die AI Skills Academy sollen 100 Millionen Europäer bis 2030 KI-Kompetenzen erwerben – ein Bildungsprojekt mit geopolitischer Relevanz .

Gleichzeitig setzt der Plan auf gezielte Vereinfachung: Ein neuer AI Act Service Desk soll insbesondere kleinere Unternehmen durch die regulatorischen Anforderungen des AI Acts lotsen . Denn eines ist klar: Regulierung darf Innovation nicht im Keim ersticken.

Viel Potenzial – aber auch viele Unbekannte

Die Vision überzeugt – doch wie bei jeder europäischen Strategie entscheidet am Ende die Umsetzung. Die Herausforderungen sind groß:

  • Werden Investitionen schnell genug mobilisiert – auch aus der Privatwirtschaft?
  • Wie gelingt der Schulterschluss zwischen Kommission, Mitgliedstaaten und Regionen?
  • Wie wird sichergestellt, dass die Infrastrukturprojekte nicht in Einzelinteressen zerrieben werden?

Der Plan benennt viele richtige Hebel – von der Cloud-Infrastruktur über Datenräume bis hin zur strategischen Talentbindung. Doch er steht und fällt mit Geschwindigkeit, politischem Willen und Koordination.

Das Fenster für technologischen Anschluss ist offen – aber nicht für immer

Der „AI Continent“-Plan ist ein Weckruf. Und er kommt nicht zu früh. Europa steht vor der Wahl: digitale Gestaltungskraft oder technologische Abhängigkeit. Mit diesem Plan liegt eine echte Chance auf dem Tisch – nicht nur für Wettbewerbsfähigkeit, sondern für strategische Selbstbestimmung.
Doch wie bei jeder Chance gilt: Sie muss genutzt werden. Und zwar jetzt – nicht erst 2030. Denn während Europa plant, trainieren andere längst die nächste KI-Generation.

Dirk Pappelbaum

Dirk Pappelbaum, Jahrgang 1971, studierte in Leipzig Mathematik. Heute ist er CEO der Inveda.net, einer Firma in Leipzig, die sich auf Software für Versicherungsmakler spezialisiert hat.

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