Ein Grund für rechtliche Auseinandersetzungen in der Berufsunfähigkeitsversicherung kann die Anfechtung des Versicherungsvertrages durch den Versicherer sein. Mit diesem Gestaltungsrecht können Versicherungen im Einzelfall sich bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen vom Versicherungsvertrag lösen. Doch welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit der Versicherer anfechten kann? Wer trägt die Beweislast und welche Konsequenzen drohen dem Versicherungsnehmer?
Ein Beitrag der Kanzlei Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte in Partnerschaft mbB
Die Anfechtung des Versicherungsvertrages nach § 22 VVG in Verbindung mit § 123 BGB ist nur unter engen Voraussetzungen möglich. Wegen eines Irrtums über einfache Umstände ist die Anfechtung des Versicherungsvertrages durch den Versicherer nur dann zulässig, wenn es sich nicht um gefahrerhebliche Umstände handelt. Denn in diesem Fall muss vorrangig der Rücktritt nach den §§ 19, 21 VVG ausgeübt werden.
Jederzeit und ohne Beschränkung des Gegenstandes kann hingegen die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung im Sinne des § 22 VVG erklärt werden. Eine Beschränkung dieses Rechts auf bestimmte Umstände ist aufgrund der bewussten Täuschung des Vertragspartners nicht geboten (BGH, Urteil v. 08.10.1964 – Az. II ZR 35/62). Um wegen einer arglistigen Täuschung anfechten zu können, muss zunächst objektiv eine Täuschung vorliegen. Diese muss subjektiv gesehen arglistig gewesen sein und den Versicherer kausal zum Abschluss des Versicherungsvertrages bewegt haben.
Die Täuschung setzt also eine objektiv falsche Angabe voraus. Eine Angabe des Versicherungsnehmers ist dann falsch, wenn er sie dem Versicherer gegenüber wissentlich abgibt oder aber für den Versicherer relevante Angaben verschweigt (Unterlassen). Ob die objektiv falsche Angabe durch Tun oder Unterlassen getätigt wird, ist zunächst erstmal irrelevant.
Maßgeblich ist die Relevanz der richtigen Information für den Versicherer. Relevant sind grundsätzlich alle Informationen, die unmittelbar mit dem Versicherungszweck zusammenhängen. Bei einer Berufsunfähigkeitsversicherung sind das beispielsweise der bisher ausgeübte Beruf, das zu versichernde Einkommen oder die ganzen Daten zum gesundheitlichen Zustand (BGH, Urteil v. 14.07.2004 – Az. IV ZR 161/03).
Bestehen einer spontanen Anzeigeobliegenheit
Enthält der Gesundheitsfragebogen im Vorfeld des Versicherungsvertrages mehrdeutige oder unpräzise Fragen, die der Versicherungsnehmer anders als der Versicherer versteht, scheidet eine falsche Angabe hingegen aus. In engen Ausnahmefällen kann den Versicherungsnehmer jedoch eine sogenannte „spontane Anzeigeobliegenheit“ über Informationen treffen, nach denen der Versicherer nicht ausdrücklich gefragt hat.
Dies gilt aber nur bei Informationen, die für jeden erkennbar das Aufklärungsinteresse des Versicherers in elementarer Weise betreffen und es deshalb für den Versicherten auf der Hand liegt, dass es sich um eine bedeutende Information handelt (BGH, Urteil v. 19.05.2011 – Az. IV ZR 154/10).
Weiterhin ist es nicht notwendig, dass der Versicherungsnehmer selbst täuscht. Bedient er sich eines Maklers, so sind dem Versicherten die Täuschungen, die der Makler selbst vornimmt, gemäß § 166 Abs. 1 BGB dem Versicherten zuzurechnen (BGH, Urteil v. 12.03.2014 – Az. IV ZR 306/13).
Arglist des Versicherten
Um die Täuschung als arglistig qualifizieren zu können, muss der Versicherungsnehmer in Kenntnis der Unrichtigkeit seiner Angaben handeln. Es muss ihm gerade darauf ankommen, dass die Entscheidung des Versicherers hinsichtlich des Vertragsabschlusses durch die Falschangabe beeinflusst wird und der Vertrag unter den wahren Bedingungen nicht oder nicht so zustande gekommen wäre.
Die Absicht, dass dem Versicherer aufgrund der falschen Angabe tatsächlich ein Vermögensschaden entsteht, ist nicht erforderlich. Es genügt vielmehr das Bewusstsein, dass die Falschangabe in irgendeiner Weise Einfluss auf eine etwaige Schadensregulierung haben kann (BGH, Urteil v. 22.06.2011 – IV ZR 174/09).
Zusätzlich muss die arglistige Täuschung des Versicherten ursächlich dafür geworden sein, dass der Versicherer den Versicherungsvertrag zu den konkreten Bedingungen geschlossen hat. Es reicht aus, dass der Versicherer mit der richtigen Information den Vertrag nicht in dieser Form geschlossen hätte, selbst wenn es sich nur um eine marginale Änderung in den Versicherungsbedingungen handeln würde (BGH, Urteil v. 24.11.2010 – Az. IV ZR 252/08).
Frist zur Anfechtung durch den Versicherer
Liegen diese drei Voraussetzungen kumulativ vor, hat der Versicherer dem Grunde nach ein Anfechtungsrecht, wenn er dieses fristgemäß ausübt. Gemäß § 124 BGB muss der Versicherer die Anfechtung innerhalb eines Jahres ab Erlangung der Kenntnis der arglistigen Täuschung dem Versicherungsnehmer gegenüber ausdrücklich erklären.
Diese Frist beginnt erst zu laufen, wenn Kenntnis sowohl der objektiven Täuschung als auch der subjektiven Arglist besteht. Jedoch gilt auch für die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung, dass gem. § 21 Abs. 3 S. 2 VVG eine Anfechtung grundsätzlich nicht mehr möglich ist, wenn die arglistige Täuschung mehr als zehn Jahre zurückliegt (BGH, Urteil v. 25.11.2015 – IV ZR 277/14).
Beweislast bei der Anfechtung
Erklärt der Versicherer dem Versicherten gegenüber die Anfechtung des Versicherungsvertrages wegen arglistiger Täuschung, treffen beide Parteien unterschiedliche Pflichten hinsichtlich der Beweis- und Darlegungslast.
Grundsätzlich trifft den Versicherer die Beweislast hinsichtlich der Verletzung der Anzeigepflicht. Er muss also beweisen, dass der Versicherungsnehmer hinsichtlich der angegebenen Informationen objektiv getäuscht hat. Dazu gehört auch der Beweis darüber, dass der Versicherungsnehmer überhaupt Kenntnis von dem gefahrerheblichen Umstand hatte. Hat der Versicherte einen Versicherungsagenten damit beauftragt, die Gesundheitsfragen des Versicherers auszufüllen, so muss der Versicherer beweisen, dass der Versicherungsnehmer dem ausfüllenden Versicherungsagenten dessen Fragen nicht wahrheitsgemäß beantwortet hat (BGH, Urteil v. 24.11.2010 – Az. IV ZR 252/08).
Das arglistige Handeln ist ebenfalls durch den Versicherer zu beweisen. Diesem muss zumindest der Nachweis gelingen, dass dem Versicherungsnehmer die Entscheidungserheblichkeit seiner Falschinformation bewusst war. Bezüglich der subjektiven Arglist des Versicherungsnehmers kann jedoch regelmäßig nur ein Indizienbeweis geführt werden, durch welchen die objektiven Umstände die innere Willensrichtung des Handelnden indizieren. Deshalb ist es in den meisten Fällen ausreichend, wenn der Versicherer den Nachweis erbringt, dass durch die Falschangabe der konkrete Vertragsschluss herbeigeführt wurde (OLG Koblenz, Urteil v. 20.04.2001 – Az. 10 U 1003/00).
Sekundäre Darlegungslast
Gelingt dem Versicherer dieser Beweis, trifft den Versicherten sodann die sekundäre Darlegungslast hinsichtlich der Gründe für die falschen Informationen. Der Versicherte muss glaubhaft die Motive und Hintergründe darlegen, die ihn zu der falschen Angabe bewegt haben, um den Vorwurf der Arglist abzuwehren. Gelingt es dem Versicherungsnehmer eine plausible Erklärung für die falsche Angabe vorzubringen, muss der Versicherer wiederum beweisen, dass diese Erklärung einer Arglist nicht im Wege steht (BGH, Urteil v. 12.03.2008 – Az. IV ZR 330/06).
Erfolgt die Anfechtung außerhalb der Jahresfrist und beruft sich der Versicherungsnehmer darauf, dass das Anfechtungsrecht nicht fristgemäß ausgeübt worden ist, so muss der Versicherungsnehmer den Beweis für diese Verfristung führen. Denn das Erlöschen des Anfechtungsrechtes stellt einen Vorteil des Versicherungsnehmers dar, für den er den Beweis führen muss (BGH, Urteil v. 19.04 1994 – Az. IV ZR 232/92).
Bedeutung und Folgen für Versicherungsnehmer
Liegen die Anfechtungsvoraussetzungen vor und wird die Anfechtung fristgemäß und in ordnungsgemäßer Weise durch den Versicherer ausgeübt, so kann dieser seine auf Vertragsabschluss gerichtete Willenserklärung rückwirkend beseitigen und somit den Berufsunfähigkeitsvertrag vollständig „zu Fall bringen“. Ein Versicherungsschutz besteht dann für den Versicherten nicht mehr.
Wahlweise kann der Versicherer auch nur den Teil des Vertrages, in welchem er getäuscht wurde, anfechten. Dann gilt der Vertrag mit Ausnahme des angefochtenen Teils weiter fort. Ein Anspruch des Versicherten auf Rückzahlung von Prämien besteht nach § 39 Abs. 1 S. 2 VVG hingegen nicht. Künftige Beiträge müssen natürlich nicht mehr entrichtet werden.
Fazit
Sollte der Versicherer den Versicherungsvertrag angefochten haben, empfiehlt es sich umgehend anwaltlichen Rat einzuholen. Denn auch Leistungsentscheidungen der Versicherungen können unzulässig und rechtlich nicht haltbar sein. Auch kann unter Umständen der Versicherungsschutz wiederhergestellt werden, notfalls mittels gerichtlicher Hilfe.
Neben der Kündigung, dem Rücktritt und der Vertragsanpassung ist die Vertragsanfechtung eines der stärksten Gestaltungsrechte des Versicherers. Dieser muss dem Versicherungsnehmer eine objektive Täuschung, die subjektiv arglistig begangen und kausal für den Vertragsschluss wurde, nachweisen. Der Versicherungsnehmer muss hingegen darlegen, dass die Angabe gerade nicht arglistig gemacht wurde. Zudem muss die Anfechtung des Versicherungsvertrages innerhalb der Jahresfrist, spätestens jedoch nach zehn Jahren erfolgen.
Liegen diese Voraussetzungen vor, kann sich der Versicherer entweder vom ganzen Vertrag oder nur von einem Teil lösen, der Versicherungsschutz entfällt dann. Diese Rechtsfolge hat weitreichende Konsequenzen für Versicherungsnehmer, welcher nicht nur keine Leistungen aus dem Versicherungsvertrag erhält, sondern wegen der Anfechtung nicht mal mehr einen Berufsunfähigkeitsvertrag hat.