Digitalisierung in der Industrieversicherung – verlieren nationale Versicherer den Anschluss?
Bisher haben sich Industrieversicherungsunternehmen in Deutschland wenig voneinander in Angebot, Service und Kommunikation mit Kunden und Vermittler unterschieden. Doch dies ändert sich nun, wie eine Studie des Industrieversicherungsmaklers und Risikoberaters Marsh und der Strategieberatung Oliver Wyman zeigt: Der Markt verändert sich massiv und spartenspezifisch unterschiedlich. Ursächlich ist der Ausbau von digitalen Fähigkeiten entlang der kompletten Wertschöpfungskette.
Oliver Wyman und Marsh identifizieren fünf idealtypische Digitalisierungsstrategien mit unterschiedlich bewerteten Erfolgsaussichten in einem zunehmend raueren und konkurrenz-intensiveren Markt.
Untersuchungen zur Digitalisierung haben überwiegend nur die Beziehung zum Konsumenten, im Falle der Versicherungswirtschaft den privaten Versicherungsnehmer, im Blick. Hohes, wenn auch nicht so öffentlichkeitswirksames Potenzial gibt es aber auch im B2B-Bereich der Industrieversicherung für größere und große Unternehmenskunden mit 25 bis über 500 Millionen Euro Jahresumsatz, wie die neue Ausgabe der Studie „State of Play – Vol. 2“ von Oliver Wyman und Marsh feststellt.
Nach der Studie sind Industrieversicherungsunternehmen vom Hype vor zwei Jahren heute in der Mühe der digitalen Ebene angekommen: Nur fünf Prozent der Unternehmen bewerten ihren Digitalisierungsgrad über die Wertschöpfungskette noch als überdurchschnittlich. In der Vorgängerstudie war es noch jedes dritte Unternehmen. Zu dieser Einschätzung hat beigetragen, dass die Konkurrenz nun digital besser und sichtbarer ist: Die Einordnung der eigenen digitalen Fähigkeiten wird realistischer.
Konkret eingesetzt werden die digitalen Technologien Big Data Analytics, künstliche Intelligenz/ maschinelles Lernen, Cloud Computing, Internet of Things (IoT) und Blockchain. Zwischen 15 und 45 Prozent der Befragten sehen sich bei den ersten drei Technologien als führend im Branchenvergleich beziehungsweise schätzen ihre Fähigkeiten als voll ausgebaut ein. Mit Skepsis betrachten die Studienautoren, dass dies auch jeweils jedes siebte Versicherungsunternehmen in den doch nahezu unerschlossenen Technologien IoT und Blockchain für sich reklamiert.
Jens-Daniel Florian, Leiter Digital Strategy & Transformation bei Marsh, dazu:
„Es ist insgesamt positiv zu bewerten, dass der interne Ausbau über alle genannten digitalen Technologien tatsächlich voranschreitet und damit auch eine klarere Positionierung und Wettbewerbsvorteile einzelner Anbieter im Markt abzusehen sind.“
In den nächsten zwei bis drei Jahren wollen die Industrieversicherer jedenfalls Beträge von jeweils unter einer bis zu 100 Millionen Euro primär in die drei erstgenannten Technologien investieren. Insgesamt plant jedes zweite Unternehmen mehr als 10 Millionen Euro in die digitalen Technologien zu investieren. Jedes fünfte will mehr als 10 Millionen Euro für Big Data Analytics ausgeben. Für künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen möchte im Durchschnitt jeder siebte Versicherer diesen Betrag in die Hand nehmen.
Wie und wo digitalisiert wird
Ziele der Digitalisierung in Industrieversicherungsunternehmen sind überwiegend die Verbesserung der internen Abläufe im Underwriting, bei Serviceprozessen, Schadenabwicklung und der Risikobeurteilung. Aufgrund des sich ändernden Selbstverständnisses der Versicherungsunternehmen hin zu Dienstleistern für Schadenprävention und Risikomonitoring konzentrieren zwei Drittel der befragten Unternehmen ihre digitalen Investments auch auf diesen Bereich. „Das untersteicht die klare Positionierung von 20 Prozent der Studienteilnehmer, die sich proaktiv zum Risikopartner entwickeln und davon überzeugt sind, dass das klassische Versicherungsangebot weiter verdrängt wird.
Jens-Daniel Florian erklärt:
„Hier fängt eine klarere Differenzierung im Markt an. Der Fokus auf das Risiko wächst und es wird versucht, dies mit neuen Technologien und Datenströmen proaktiver zu managen.“
Dass die Kundenschnittstellen weniger im Zentrum stehen, verwundert den Experten ob der Komplexität des Geschäfts nicht.
Thomas Olaynig, Head of Placement and Specialties und Geschäftsführer bei Marsh, fasst zusammen:
„Der Maklervertrieb ist für den überwiegenden Anteil der Teilnehmer von großer Bedeutung. Mehr als die Hälfte der befragten Industrieversicherer erzielt mindestens 75 Prozent ihres Geschäfts über diesen Vertriebskanal. Alle Unternehmen am Markt haben daher die digitalen Schnittstellen zu Kunden und Maklern weiter ausgebaut.“
Das Digitalpotenzial der Industrieversicherer unterscheidet sich allerdings erheblich nach Sparten: Für die Sachversicherung und die Financial Lines (einschließlich Cyber, D&O, Vermögensschaden) sehen die meisten Versicherungsunternehmen in Big Data Analytics – gefolgt von künstlicher Intelligenz/maschinellem Lernen – sehr hohes Potenzial; ein Bereich, der jeher im Fokus der Versicherungsindustrie stand. Ein Drittel der Studienteilnehmer sieht in dieser Technologie auch Potenzial für Technische Versicherungen, Warentransportversicherung, Kreditversicherung sowie Kraftfahrt.
Anders als Privatkundenversicherungen sind Versicherungen für Industriekunden in der Regel internationale Produkte. Ein Unternehmen möchte zum Beispiel nicht nur einen Standort absichern, sondern Deckungen für sein Gesamtgeschäft, wenn es internationale Produktionsstandorte oder Kunden hat. Deshalb gibt es in der Branche vor allem im Bereich der Großkunden mit internationalem Geschäft auch internationale Industrieversicherer neben den auf den lokalen Markt fokussierten Anbietern.
Es drängt sich die Frage auf, ob die Digitalisierung die Wettbewerbsdynamik zwischen den internationalen und den lokalen Spielern verändert. Die Studienergebnisse liefern dafür erste Anzeichen. Vor allem im Einsatz der Digitalisierung zur Entscheidungsunterstützung – den sogenannten Systems of Intelligence – basierend auf Big Data Analytics und künstlicher Intelligenz/maschinellem Lernen – können international agierende Versicherer ihre Skalenvorteile ausspielen. Sie haben entsprechende Technologien schon doppelt so häufig im Einsatz wie rein nationale Anbieter – wobei der Abstand seit der letzten Studie vor zwei Jahren sogar gestiegen ist.
Dr. Dietmar Kottmann, Partner bei Oliver Wyman, sagt:
„In der Digitalisierung der Industrieversicherung kommt es vor allem darauf an, mit Daten und analytischen Systemen schneller bessere Entscheidungen zu treffen. Und dabei haben internationale Industrieversicherer dank ihrer Größe die Nase deutlich vor den nationalen Anbietern.“
In jedem Fall treiben die Industrieversicherungsunternehmen ihre Digitalisierung durch die Entwicklung von Ideen mit Start-ups, Hochschulen, aber auch mit Maklern und Endkunden voran. Die Umsetzung zur Differenzierung im Markt erfolgt dann überwiegend mit Vertriebspartnern (60 Prozent) und Endkunden (65 Prozent).
Wo Industrieversicherer die Schwerpunkte in der Digitalisierung setzen
Jeder siebte Versicherer wird als ‚Digitaler Pionier‘ identifiziert, ein Unternehmen, das Digitalisierung intensiv in allen Bereichen einsetzt. Und erstaunlicherweise sind in der üblicherweise als äußerst traditionell geltenden Branche nur 20 Prozent der Unternehmen ‚Abwarter‘, solche, die erfolgreiche digitale Anwendungen anderer im Markt nachahmen – oder nur bereits Bewährtes adaptieren.
Als dominante Strategie der Digitalisierung identifiziert die Studie ‚Optimierer‘, welche die Digitalisierung zur Verbesserung ihrer Kernwertschöpfung und Prozesse einsetzen (40 Prozent Anteil an den Gesamtstrategien). Wenige Versicherer fokussieren sich primär auf die Digitalisierung der Kundeninteraktion (10 Prozent) oder der Innovation ihres Leistungsangebots (15 Prozent). Letztere, die sogenannten ‚Value Proposition Transformators‘‚ könnten durchaus zu einer Differenzierung im Markt führen.
Dr. Dietmar Kottmann dazu:
„Zwei Drittel der Industrieversicherer setzen Digitalisierung heute entweder breit ein oder fokussieren sich auf die sichere Wette, interne Optimierungen zu finden. Nur wenige haben den Mut das Risiko einzugehen, sich auf innovative Angebote zu fokussieren.“