Wahrgenommene Inflation auf Höchststand

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Acht von zehn Verbrauchern sehen sich aktuell von starken Preissteigerungen bei Lebensmitteln betroffen. Die Lücke zwischen der offiziellen Inflationsrate und der gefühlten Veränderung der Verbraucherpreise nimmt zu. Und: Immer weniger sind in der Lage zu sparen.

Das Agieren der Europäische Zentralbank wird in der Öffentlichkeit und zunehmend auch in wissenschaftlichen Kreisen heftig kritisiert. In Zeiten niedriger offizieller Inflationsraten verwies sie auf das 2-Prozent-Inflationsziel, um ein Nicht-Anheben der Zinsen zu rechtfertigen. Nachdem die 2-Prozent-Marke bereits im letzten Jahr überschritten wurde, argumentierte die EZB mit „nur“ temporären Preiserhöhungen, die bald wieder auf normale Niveaus fallen würden.

Selbst bei Inflationsraten von mittlerweile 6 oder 7 Prozent lässt eine Reaktion der EZB auf sich warten. Nicht auf sich warten lässt eine Anpassung in der Preiswahrnehmung durch die Verbraucher. Prof. Dr. Andreas Krämer, CEO der exeo Strategic Consulting AG und Co-Autor der Studie OpinionTRAIN, betont, dass das permanente Verweigern einer Zinserhöhung weitreichende Wirkungen mit sich bringen könne:

Die Verbraucher orientieren sich weniger an offiziellen Inflationsraten, sondern nehmen stark steigende Preise in fast allen Lebensbereichen wahr, während die Zinsen für Guthaben auf dem Bankkonto seit längerem bei Null oder darunter liegen.

Dass die gefühlte Inflation höher als die offizielle Teuerungsrate ausfalle, sei keine Neuigkeit. Neu sei hingegen, welche Dimensionen die subjektive Preissteigerung aktuell habe, so der Prof. Krämer.

Acht von zehn Verbrauchern sehen sich aktuell von starken Preissteigerungen bei Lebensmitteln betroffen

In der aktuellen Untersuchungswelle der Studie OpinionTRAIN (März und April 2022) stimmen 83 Prozent der Befragten der Aussage zu „Ich habe den Eindruck, dass die Preise für Lebensmittel heute deutlich höher sind als vor Ausbruch der Corona-Krise“. Mehr als zwei Drittel der Verbraucher gehen von gestiegenen Ausgaben bei Lebensmitteln aus. Gegenüber der Vormessung im August und September 2021 – auch hier lag die offizielle Teuerungsrate bei 4 bis 5 Prozent – ist die Zustimmung zu den Statements erheblich gestiegen. Das Thema Preissteigerung ist damit endgültig im Bewusstsein der Verbraucher manifestiert.

Häufig wird das Überschätzen der gemeldeten Inflationsrate durch die Konsumenten mit der stärkeren Wahrnehmung von Gütern des täglichen Bedarfs erklärt. Aktuell prägen aber Preissteigerungen auf breiter Front das Bewusstsein der Verbraucher: So sind 72 Prozent der deutschen Verbraucher der Meinung, die Verbraucherpreise seien in den letzten 12 Monaten stark gestiegen (21 Prozent sehen moderate Teuerungen). Hohe Steigerungen bei den Verbraucherpreisen werden in vielen Teilen der Bevölkerung gesehen – besonders stark aber bei älteren und einkommensschwächeren Konsumenten.

Subjektive Inflationsrate erreicht im Mittel 13 Prozent

Nach der grundsätzlichen Einschätzung zur Veränderung der Verbraucherpreise haben die Studienteilnehmer eine konkrete Einschätzung gegeben. Die wahrgenommene Veränderung liegt demnach im Mittel bei +13 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Bisherige Erklärungsmuster, die darauf beruhen, die Konsumenten würden aktuelle Einkäufe stärker als unregelmäßige Einkäufe wahrnehmen, scheinen als Erklärungsansätze möglicherweise nicht mehr ganz ausreichend – zumindest bezogen auf die häufig gekauften Produkte wie Lebensmittel. Selbst Befragte, die keine starken Preissteigerungen bei Lebensmitteln wahrnehmen, sehen zu einem erheblichen Anteil allgemein stark gestiegene Verbraucherpreise.

Zunehmende wahrgenommene Lücke zwischen der offiziellen Inflationsrate und der gefühlten Veränderung der Verbraucherpreise

Die vom Statistischen Bundesamt ausgewiesene Inflationsrate (basierend auf einem Warenkorb) lag im März und April 2022 bei circa 7 Prozent. Etwa 60 Prozent der deutschen Bevölkerung schätzen, dass die Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahr um mehr als 7 Prozent angestiegen sind. Frühere Untersuchungen gingen von einer Überschätzung der Inflationsrate von 3 bis 5 Prozent-Punkten aus.

Offensichtlich ist die Lücke zwischen offizieller Teuerungsrate und gefühlter Inflation aus Verbrauchersicht in der aktuellen Krisensituation stark auseinandergedriftet. Damit verbunden sind auch mögliche Reaktionen, zum Beispiel aufgrund der „schleichenden Enteignung“ mehr Geld für den Konsum auszugeben. 44 Prozent der Befragten haben das Gefühl, die Preise, die sie persönlich zahlen, würden stärker steigen als die Inflationsrate (August und September 2021: 33 Prozent). In der Altersklasse 60+ Jahre liegt die Zustimmung sogar bei 56 Prozent. Dabei ist insgesamt die Kenntnis der allgemeinen Preissteigerungsrate des Statistischen Bundesamtes mit 23 Prozent weiterhin relativ gering.

Reaktion der Verbraucher: Sparen – aber immer weniger sind in der Lage zu sparen

Die Befragungsergebnisse untermauern nicht die Hypothese, eine höhere gefühlte oder objektiv gemessene Inflation würde bei gleichzeitig niedrigem Zinsniveau zu höheren Ausgaben für den Konsum führen. Auch in der aktuellen Phase sehr hoher Preissteigerungen beabsichtigen nur etwa 10 Prozent der Befragten, zukünftig mehr Geld für Konsum auszugeben, weil sich Geld-Sparen nicht mehr lohnt. Gleichzeitig ist die Segmentgröße der Personen, die kontinuierlich Geld sparen, deutlich reduziert. Dies dürfte aber auch daran liegen, dass aufgrund von Ausgabensteigerungen in unterschiedlichen Lebensbereichen bei einigen Haushalten die Möglichkeit zum Sparen einfach erschöpft ist.

Vor diesem Hintergrund ergeben sich klare Erklärungsmuster für eine Stagflation: Das Wachstum der Wirtschaft wird nicht nur durch Probleme in den Lieferketten gebremst, sondern auch durch einen Verlust an Binnennachfrage. Johannes Hercher, Vorstand der Rogator AG und Co-Autor der Studie OpinionTRAIN, erwartet aufgrund des Zögerns der EZB fatale Konsequenzen für die wirtschaftliche Entwicklung in der EU: Entweder führe die extrem hohe gefühlte Inflation zu einem Konsumschub (der nicht erkennbar sei) und sei Start für eine Hyperinflation oder sie bewirke eine gestiegene Sparneigung der Verbraucher (die erkennbar sei) und damit direkt eine Stagflation (wirtschaftliche Stagnation in Kombination mit Inflation). Die Konsequenz wäre im besten Fall ein Vertrauensverlust öffentlicher Institutionen wie der EZB, so Hercher abschließend.