Lohnfortzahlung unter Beschuss: Ist der Karenztag die Lösung oder ein sozialer Rückschritt?
Die jüngste Forderung von Allianz-Chef Oliver Bäte, den ersten Krankheitstag ohne Lohnzahlung zu belassen, hat eine alte Diskussion in Deutschland neu entfacht.
Der sogenannte „Karenztag“, der bis Ende der 1960er-Jahre gängige Praxis war, würde bedeuten, dass Arbeitnehmer am ersten Tag ihrer Krankmeldung keine Entgeltfortzahlung erhalten. Dies wirft grundsätzliche Fragen auf: Ist das deutsche Modell der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu großzügig? Fördert es Missbrauch? Oder handelt es sich um eine unverzichtbare Errungenschaft, die Arbeitnehmer schützt und Arbeitsausfälle langfristig minimiert?
Historischer Hintergrund: Die Einführung der Lohnfortzahlung
Seit dem 1. Januar 1970 gilt in Deutschland die gesetzliche Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, geregelt im Entgeltfortzahlungsgesetz (EntgFG). Die Regelung sieht vor, dass Arbeitnehmer im Krankheitsfall bis zu sechs Wochen lang ihren vollen Lohn erhalten. Ziel war damals, soziale Ungleichheiten zwischen Arbeitern und Angestellten zu beseitigen und eine einheitliche Absicherung zu schaffen. Karenztage, die zuvor für kurze Erkrankungen galten, wurden abgeschafft.
Diese Reform galt lange als Meilenstein im Arbeitnehmerschutz. Heute jedoch wird die Regelung zunehmend infrage gestellt – vor allem im Hinblick auf die finanzielle Belastung der Krankenkassen. Diese verzeichneten zuletzt Milliardendefizite, sodass die Diskussion über Einsparpotenziale wieder an Fahrt gewinnt.
Die aktuelle Diskussion: Argumente für und gegen Karenztage
Bäte argumentiert, dass ein Karenztag dazu beitragen könnte, die Krankentage zu reduzieren und Missbrauch zu vermeiden. Unterstützung erhält er unter anderem vom Freiburger Sozialexperten Bernd Raffelhüschen, der vorschlägt, Arbeitnehmer sogar bis zu drei Krankheitstage selbst finanzieren zu lassen. Nach seiner Einschätzung würde dies einen stärkeren Anreiz setzen, nur im Krankheitsfall zu Hause zu bleiben. Gleichzeitig verweist er darauf, dass Länder mit Karenztagen tendenziell weniger Fehltage verzeichnen.
Doch diese Vorschläge stoßen auf scharfe Kritik. Gewerkschaften und Arbeitnehmervertreter warnen vor den negativen Folgen von „Präsentismus“ – einem Phänomen, bei dem Beschäftigte trotz Krankheit zur Arbeit erscheinen, aus Angst vor Lohneinbußen. Dies könnte nicht nur die eigene Genesung verzögern, sondern auch die Gesundheit der Kollegen gefährden. Der FDP-Politiker Konstantin Kuhle betonte ebenfalls, dass solche Vorschläge auf pauschalen Unterstellungen von „Faulheit“ basieren würden. Er sprach sich stattdessen für gezielte Anreizsysteme aus, die Fehlzeiten sinnvoll steuern könnten, ohne Beschäftigte zu belasten.
Auch die steigenden Fehlzeiten in Deutschland sind, so Experten, kein Hinweis auf Missbrauch, sondern auf tiefere gesellschaftliche und demografische Entwicklungen. Eine alternde Belegschaft, die Zunahme chronischer Erkrankungen sowie die wachsenden psychischen Belastungen am Arbeitsplatz spielen eine wesentliche Rolle. Hinzu kommt, dass die Digitalisierung und das Homeoffice die Arbeitskultur verändert haben. Während das Arbeiten von zu Hause aus bei leichten Erkrankungen helfen kann, Infektionsrisiken zu senken, erschwert es zugleich die Trennung zwischen Berufs- und Privatleben, was Stress und Erschöpfung begünstigen kann.
Internationale Perspektiven: Modelle und Erfahrungen anderer Länder
Ein Blick ins Ausland zeigt, dass Karenztage in vielen Ländern etabliert sind. Die Regelungen unterscheiden sich jedoch erheblich:
- Schweden: Hier gilt ein Karenztag, an dem kein Gehalt gezahlt wird. Ab dem zweiten Krankheitstag übernimmt der Arbeitgeber 80 Prozent des Gehalts. Dennoch verzeichnet Schweden weniger Krankentage als Deutschland. Kritiker warnen jedoch, dass die Einführung von Karenztagen oft zu mehr „Präsentismus“ führt.
- Großbritannien und Irland: Das gesetzliche Krankengeld wird erst ab dem vierten Krankheitstag gezahlt. Die ersten drei Tage bleiben unbezahlt, was in der Praxis viele Beschäftigte dazu zwingt, krank zur Arbeit zu gehen.
- Norwegen und Österreich: Beide Länder haben großzügige Lohnfortzahlungsregelungen, ähnlich wie Deutschland, verzeichnen jedoch weniger Krankentage. Dies deutet darauf hin, dass Faktoren wie Arbeitskultur und betriebliche Gesundheitsförderung eine wichtige Rolle spielen.
- Frankreich und Spanien: In Frankreich gibt es eine gesetzliche Karenzzeit von drei Tagen, in Spanien bleiben die ersten drei Tage ebenfalls unbezahlt. Während dies kurzfristig Kosten spart, werden langfristig negative Effekte durch „Präsentismus“ beobachtet.
- USA: Dort existiert kein bundesweit einheitliches Recht auf Lohnfortzahlung. Krankentage werden oft durch betriebliche Vereinbarungen oder private Versicherungen abgedeckt. Dies führt dazu, dass viele Beschäftigte selbst bei ernsthaften Erkrankungen nicht zu Hause bleiben.
Die internationalen Erfahrungen zeigen, dass Karenztage allein nicht ausreichen, um Fehlzeiten zu minimieren. Vielmehr sind Arbeitskultur, betriebliche Gesundheitsförderung und soziale Absicherungen entscheidend.
Die politische Dimension
In Deutschland wurde die Einführung von Karenztagen zuletzt in den 2000er-Jahren diskutiert, damals jedoch von Union und FDP abgelehnt. Die jüngsten Vorschläge kommen nun vor dem Hintergrund steigender Krankenkassenbeiträge und der Debatte über eine gerechte Kostenverteilung im Gesundheitssystem wieder auf die Tagesordnung. Einige Stimmen aus der CDU zeigen sich offen für eine erneute Prüfung der Idee. Doch die politische Umsetzbarkeit bleibt fraglich: Kürzungen bei der Lohnfortzahlung gelten in der Bevölkerung als unpopulär und könnten schnell als sozialer Rückschritt interpretiert werden.
Ein komplexes Spannungsfeld
Ob Karenztage eine Lösung sein könnten, bleibt umstritten. Während Befürworter wie Oliver Bäte diese Maßnahme als finanzielle Entlastung für das Gesundheitssystem und als Mittel zur Disziplinierung der Arbeitnehmer sehen, warnen Kritiker vor einem Vertrauensverlust zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Zudem könnten die langfristigen Folgen – darunter gesundheitliche Beeinträchtigungen durch „Präsentismus“ – die gewünschten Einsparungen aufwiegen.
Eine nachhaltige Reduzierung der Krankentage dürfte weniger von Einschnitten bei der Lohnfortzahlung abhängen als von Maßnahmen wie betrieblicher Gesundheitsförderung, präventiver Arbeitsschutzpolitik und einer verbesserten Arbeitskultur. Letztlich bleibt die Frage, wie weit Deutschland bereit ist, die historische Errungenschaft der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu überdenken, um auf die aktuellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen zu reagieren.