Dass wir heute in krisenhaften Zeiten leben, ist mittlerweile zur allgemeinen Erkenntnis geworden. Als Asset Manager können wir an dieser Entwicklung nur wenig ändern, wir können uns aber darauf einstellen. Die professionellen Fragen, die hier zu beantworten sind, lauten: Mit welchen Auswirkungen an den Kapitalmärkten muss ich rechnen, und wie kann ich mich darauf einstellen? Vielleicht kann uns ja ein Blick in die Vergangenheit weiterhelfen?
Ein Beitrag von Kay-Peter Tönnes, Geschäftsführer und Portfoliomanager Antecedo Asset Management
Um uns diesen Risikofragen anzunähern, haben wir die letzten 100 Jahre, beginnend mit dem Jahr 1923, analysiert. Datenbasis war die Kursentwicklung des S&P-500-Aktienindex. Dieser Index bildet auch heute noch einen größeren Anteil des gesamten Aktienmarktes ab, und die Entwicklung in den USA ist nicht von extremen Brüchen unterbrochen, wie dies in anderen Märkten der Fall wäre. Unsere Aussagen werden hierdurch natürlich etwas US-lastig, aber für eine grundlegende Risikobetrachtung ist dies vertretbar.
In diesen 100 Jahren hat es insgesamt 31 Jahre im S&P 500 mit negativem Aktienmarktergebnis gegeben. Also statistisch alle 3,2 Jahre. Wenn es ein Verlustjahr gab, dann betrug der Wertrückgang im Durchschnitt 4,3 Prozent im Kalenderjahr. Wir haben diese Berechnungen auch für verschiedene Verlustschwellen durchgeführt. Den Überblick hierzu gibt die folgende Tabelle:
Doch diese reine Kalenderjahresbetrachtung greift zu kurz. Denn es gab große Abwärtsbewegungen, die aber schon innerhalb eines Jahres ausgeglichen wurden, oder Abwärtsbewegungen, die länger andauerten und zu viel höheren Verlusten führten, als dies die Kalenderjahresbetrachtung suggeriert. Für einen Anleger und sein Risikomanagement ist aber nicht nur die Jahresbetrachtung bedeutsam, sondern die Frage, wie viel hätte ich insgesamt verlieren können und hätte ich solche Verluste überhaupt ausgehalten?
In der folgenden Tabelle haben wir die unserer Ansicht nach zehn wichtigsten Krisen der letzten 100 Jahre aufgeführt. Dazu die Angabe, wie hoch der maximale Verlust im S&P 500 war, gemessen von letzten Hochpunkt vor der Krise bis zum absoluten Tiefpunkt. In der letzten Spalte haben wir angegeben, ob die Ursache der Krise an den Finanzmärkten zu suchen war oder ob es sich um ein externes Ereignis gehandelt hat, das durch die Analyse der Finanzmärkte nicht vorhersehbar gewesen wäre.
Es verwundert vielleicht, dass wir den Kursrückgang von 2022, der in der Spitze minus 22 Prozent übertraf (mehr als die Emerging-Markets-Krise 1998), nicht in unserer Liste der Krisen berücksichtigen. Es hätte aber noch mehr Zeiträume mit größeren Kursrückgängen gegeben und für unsere Einstufung zu einer Krise fehlt hier ein entscheidendes Element.
Eine Börsenkrise drückt sich nicht nur durch den Kursrückgang aus, sondern auch durch das ihr innewohnende Überraschungsmoment. Dies zeigt sich in sehr hohen Tagesausschlägen und stark ansteigenden Volatilitäten, verbunden mit der Tatsache, dass innerhalb der Krise ihr Tiefpunkt kaum absehbar ist und immer die Möglichkeit besteht, dass alles noch viel schlimmer kommen kann.
Dies fehlt im Kursrückgang 2022. Dieser Abstieg vollzieht sich recht kontinuierlich ohne große Tageseinbrüche und stark steigende Volatilitäten. Die Kursrückgänge 2022 sind letztendlich eine Reaktion auf ein verändertes Zinsumfeld. Die Panik echter Krisen fehlte hier aber.
Wenn wir auf die Liste der Krisen schauen, fällt auf, dass manche Krisen in recht kurzen Abständen aufeinander folgen (z.B.: 1929, 1937, 1939 oder 1998, 2000, 2008) und es auf der anderen Seite lange Abschnitte ohne echte Börsenkrisen gibt (von 1942 bis 1969). Dieses Börsenverhalten in Phasen können wir auch kenntlich machen, indem wir die Anzahl der Jahre mit einem Jahresergebnis unter -10 Prozent in einem rollierenden 8-Jahres-Zeitraum messen. Die Häufigkeit von so schlechten Börsenjahren in einem relativ überschaubaren Zeitraum zeigt die nächste Grafik.
Ein Wert von vier in der Darstellung bedeutet, dass im Durchschnitt jedes zweite Börsenjahr mehr als minus 10 Prozent Verlust eingebracht hat. Einen Wert von null oder eins in einem 8-Jahres-Zeitraum halten wir für eine ruhige Zeit. Zwei zeigt schon eine Phase gestiegener Risiken an, und bei drei oder mehr Kurseinbrüchen in relativ kurzer Zeit kann ein Anleger kaum noch Geld am Aktienmarkt verdienen.
In der historischen Betrachtung können wir abwechselnde Phasen hoher und eher niedriger Risiken beobachtet. Die Länge einer solchen Phase liegt grob betrachtet zwischen 10 und 20 Jahren. Unsere Jahrhundertbetrachtung beginnt mit dem Ende der Aufschwungsphase nach dem ersten Weltkrieg, die als die „Goldenen 20er“ in Erinnerung geblieben ist. Reichlich vorhandene Liquidität und bahnbrechende technologische Neuerungen (Automobil, Flugzeug, Rundfunk, elektrische Hausgeräte etc.) hatten zu stark steigenden Aktienkursen geführt.
Mit dem Börsencrash von 1929 endet diese Phase und ein Zeitabschnitt höchster Risiken beginnt. Zunächst als große Weltwirtschaftskrise mit in der Folge extremem Vertrauensverlust in demokratische Gesellschaftsstrukturen. Daran anschließend in mehreren Ländern der Systemwechsel hin zu autoritären und faschistischen Gesellschaftsformen. Die Kriege, die diese Systemwechsel herbeiführen, beginnen 1936 Spanischer Bürgerkrieg), 1937 (Überfall Japans auf China) und 1939.
Diese Hochrisikophase an der Börse endet schon deutlich vor dem eigentlichen Kriegsende, als im Jahresverlauf 1942 klar wird, dass die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewinnen werden. Hier beginnt die längste Aufschwungsphase des Börsenjahrhunderts, die bis weit in die 60er Jahre tragen wird. Geprägt ist dieser Zeitabschnitt von amerikanischer Dominanz, der Umsetzung vieler technologischer Neuerungen in den privaten Bereich (Pkw, Flugreisen, Fernsehen etc.) und einem weltweit steigenden Wohlstand, der uns in Deutschland als das Wirtschaftswunder in Erinnerung geblieben ist.
Ab den 60er Jahren nehmen die Risiken mit dem sich verschärfenden Ost-West-Konflikt und anziehenden Inflationsraten infolge zunehmender Knappheit an Arbeitskräften zu. Ab 1969 sehen wir dann eine Phase hoher Risiken. Zum einen können die Unternehmensgewinne nicht mehr wachsen wie zuvor, zum anderen zeigt der Vietnamkrieg klar das Ende der alleinigen amerikanischen Dominanz. Die Ölkrise 1973 steigert den Inflationsdruck nochmals auf dann zweistellige Jahresraten.
Diese Phase wird Mitte der 80er Jahre abgelöst von einem Zeitraum niedrigster Risiken am Aktienmarkt. Rückbesinnung auf eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, die erste Phase der digitalen Revolution und das Ende des Ost-West-Konfliktes bestimmen diese Zeit.
Ab der Jahrtausendwende folgt die Ära der neuen Finanzkrisen. Zuerst führt die dramatische Überbewertung bei Technologieaktien zu anhaltenden Kursrückgängen, die ab 2001 noch durch die Anschläge vom 11. September um eine politische Krise ergänzt werden. Wenige Jahre später führt die leichtsinnige, ungezügelte Kreditvergabe aus den Boomjahren fast zum Zusammenbruch des Bankensystems und damit zur Finanzkrise von 2008.
Hieran schließt sich erneut eine Phase niedriger Risiken an, die uns heute als große Globalisierung bekannt ist. Innerhalb weniger Jahre kann die Welt, angeführt von zuvor zurückgebliebenen Staaten wie China, Wohlstandszuwächse erzielen wie noch niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Am Ende dieser Phase des Aufschwungs und der niedrigen Risiken stehen wir heute. Dass sich diese Phase doch noch weiter fortsetzt, ist möglich, aber es bestehen Zweifel.
In der Betrachtung der 100 Jahre sind uns einige Faktoren aufgefallen, die jeweils typisch waren für ruhige Zeiten und Krisenzeiten. In Zeiträumen mit häufigen Kurseinbrüchen sind meistens folgende Faktoren zu finden:
1. Verfügbare Arbeitskräfte
Am Ende einer Aufschwungsphase, vor dem Wechsel in eine Risikophase, besteht normalerweise eine Knappheit an verfügbaren Arbeitskräften. So betrug die Arbeitslosigkeit in den USA 1928 3,3 Prozent. Bis 1934 stieg sie auf unglaubliche 23,6 Prozent an. 1969 lag die Arbeitslosenquote bei 3,4 Prozent, um bis 1975 auf 8,5 Prozent zu steigen, und von 2000 bis 2010 stieg die Arbeitslosigkeit von 3,97 Prozent auf 9,28 Prozent.
2. Geldwert
Ebenfalls in allen drei Risikophasen anzutreffen war eine ungewöhnlich starke Veränderung des Geldwertes. Die Weltwirtschaftskrise war begleitet von einer unglaublichen Kapitalvernichtung und einer extremen Deflation. In allen anderen, auch kleineren Krisen, bestanden dagegen leichte oder auch starke inflationäre Tendenzen.
3. Internationale Beziehungen
Auch konfliktbeladene internationale Beziehungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, eine Zeit größerer Einbrüche an den Börsen zu erleben. Damit sind hier nicht unmittelbare Kriegsauswirkungen gemeint, aber zurückgehende internationale Zusammenarbeit erhöht zum einen en Inflationsdruck und zum anderen lenkt sie Investitionen in unproduktive Bereiche.
Auf dem Höhepunkt des Ost-West-Konfliktes gaben die westlichen Länder im Durchschnitt jährlich zwischen 4 Prozent und 6 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Rüstung aus. Dafür kann es gute Gründe geben, aber Waffen zu bauen, von denen man hofft, sie nicht zu brauchen, ist natürlich unproduktiv.
Und ein Rüstungswettlauf unterliegt eigenen Gesetzen. Wenn ein Land wirtschaftlich kleiner ist als das andere, dann muss es einen überproportional größeren Anteil seiner Wirtschaftsleistung einsetzen, um gleichziehen zu können. Auf Dauer wird es damit irgendwann entweder seine Wirtschaft ruinieren, oder es muss aus dem Rüstungswettlauf aussteigen, oder es muss die militärische Entscheidung suchen.
Heutige Situation
Betrachten wir unsere heutige Situation, dann müssen wir feststellen, dass viele der genannten Voraussetzungen für eine Phase größerer Kursrückgänge an den Aktienmärkten heute vorliegen. Natürlich ist es noch nicht zwangsläufig, dass wir in eine solche Krisenphase laufen, aber die Wahrscheinlichkeit dafür ist relativ hoch.
Es können auch Entwicklungen eintreten, die dieses Risiko wieder vermindern, wie beispielsweise eine neue Phase verstärkter internationaler Zusammenarbeit (z.B. die Freihandelszone zwischen Europa und Amerika) oder technologische Entwicklungen, die zu großen Produktivitätsfortschritten führen. Aber absehbar sind solche Entwicklungen nicht.
Wie sollte sich jetzt ein Anleger verhalten, der sich der anhaltenden Risikophase an den Börsen bewusst ist. Alles verkaufen? Eher nicht. Unsere Analysen sind nicht gemacht, um genau vorherzusagen, was geschehen wird. Die Zukunft ist noch offen und Stand heute gibt es verschiedene Entwicklungen, die möglich sind. Nur, das zeigen unsere Analysen: Die Wahrscheinlichkeit einer unerfreulichen Börsenentwicklung hat zugenommen. Darauf sollte sich der Anleger im Risikomanagement einstellen.
Risikomanagement
Beim Risikomanagement, wie bei den Verteidigungsausgaben, hofft man, dass man es nicht braucht. Der Risikomanager sollte sich aber fortlaufend darauf einstellen, dass im folgenden Jahr ein größerer Börseneinbruch (Kursrückgang stärker als -30 Prozent) erfolgt. Als zweites sollte man sich im Risikomanagement darauf vorbereiten, dass es innerhalb von drei Jahren zwei Kursrückgänge geben könnte, der zweite in etwas geringerer Größenordnung (einmal -30 Prozent und einmal -20 Prozent). Wenn meine Anlagestrategie so aufgestellt ist, dass ich beide Szenarien akzeptieren kann, dann habe ich zunächst einmal die Grundlagen für ein funktionierendes Risikomanagement geschaffen.
Es kann natürlich immer noch schlimmer kommen, aber Risikomanagement erfordert nicht, alle möglichen Gefahren von Anfang an zu vermeiden. Das würde jede Kapitalanlage nahezu unmöglich machen. Es fordert, in einer zweiten Stufe einen Plan zu haben, wenn es doch schlimmer kommt.
Sollte die gewählte Anlagestrategie die dargestellten Risikoszenarien nicht aushalten, dann sollte man sich des Risikos bewusst sein, das man im historischen Vergleich eingeht. Oder man sollte über Maßnahmen und Prozesse im Risikomanagement nachdenken.