71 Prozent der führenden Vertreter des Immobiliensektors rechnen damit, dass Europa noch vor Jahresende in eine Rezession rutschen wird. Ein Rückgang der Immobilienwerte gilt daher als unvermeidlich und die Preisunterschiede zwischen erstklassigen und sekundären Immobilien werden sich ausweiten. Die Erwartungen in Bezug auf die Verfügbarkeit von Finanzierungen sind so niedrig wie seit der globalen Finanzkrise nicht mehr.
Emerging Trends in Real Estate® Europe 2023 ist die 20. Ausgabe einer jährlichen Studie, in der die Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC gemeinsam mit dem Urban Land Institute (ULI) Marktführer im europäischen Immobiliensektor zu ihren Erwartungen für das kommende Jahr befragt. Der Report basiert auf den Meinungen von rund 900 führenden Branchenvertretern aus ganz Europa.
Inflation in fünf Jahren kein Problem mehr
Mit 91 Prozent ist die meistgenannte Herausforderung des Immobiliensektors die Inflation, dicht gefolgt von den Zinsbewegungen (89 Prozent) und dem schwachen Wirtschaftswachstum in Europa (88 Prozent). Die politische Unsicherheit auf globaler, regionaler und nationaler Ebene bereitet ebenfalls große Sorge.
Dennoch erwarten nur 13 Prozent der Antwortenden, dass die Inflation in fünf Jahren noch ein Problem darstellen wird. Das Zinsniveau (73 Prozent) und das schwache Wirtschaftswachstum (76 Prozent) hingegen werden die Branche auch mittelfristig noch belasten.
Bei den Faktoren, die konkret die Immobilienwirtschaft betreffen, stehen die stark gestiegenen Baukosten (92 Prozent) sowie die Verfügbarkeit von Ressourcen (84 Prozent) ganz oben auf der Sorgenliste. Diese beiden Aspekte werden von den Unternehmen als längerfristige Herausforderungen gesehen: Rund drei Viertel der Befragten stellen sich auf entsprechende Kosten- beziehungsweise Ressourcenprobleme über die nächsten drei bis fünf Jahre ein.
Rezession nicht in allen europäischen Ländern erwartet
71 Prozent der Immobilien-Marktführer erwarten ein Abgleiten Europas in eine Rezession noch vor Ablauf dieses Jahres, verbunden mit negativen Folgen für die Entwicklungsaktivität, die Verfügbarkeit von Finanzierungen sowie reduzierte Investitionsvolumina, Mieten und Immobilienwerte.
Deutschland, Großbritannien und die Niederlande dürften dem Abschwung kaum entgehen können, während Frankreich hauptsächlich aufgrund seiner Art der Energiebeschaffung besser gewappnet scheint. Eine Rezession vor 2023 halten 83 Prozent der Befragten in Deutschland für wahrscheinlich, in Großbritannien sind es 82 Prozent, in den Niederlanden 79 und in Spanien 68 Prozent. In Frankreich zeigt man sich optimistischer (45 Prozent).
Sinkende Immobilienwerte eröffnen Investment-Chancen
Das Vertrauen in die Verfügbarkeit von Fremd- und Eigenkapital zu Finanzierungszwecken ist so gering wie seit 2012 respektive 2009 nicht mehr. So dürften denn auch nach Ansicht der Befragten die internationalen Kapitalströme nach Europa eher ab- als zunehmen. Am negativsten werden die Aussichten für Fremd- und Eigenkapital zur Projektfinanzierung (70 Prozent beziehungsweise 63 Prozent erwarten hier einen Rückgang) sowie für Fremdkapital zur Refinanzierung oder Realisierung von Neuinvestitionen (64 Prozent rechnen mit einem Rückgang) beurteilt.
Die Antworten der Befragten deuten ferner darauf hin, dass 2023 sinkende Immobilienwerte zu erwarten sind. Somit könnten sich im kommenden Jahr gute Kaufgelegenheiten für Core-Investoren und reine Eigenkapitalgeber ergeben, die immer noch zu wenig in Immobilien investiert haben.
Man ist sich einig, dass die Marktanspannungen kaum auch nur annähernd die Ausmaße wie bei der globalen Finanzkrise erreichen dürften. Der Zinsanstieg wird aber dennoch für gravierende Auswirkungen am Markt sorgen, beispielsweise aufgrund der Notwendigkeit, bei rückläufigen Immobilienwerten die Verletzung von Kreditauflagen beheben zu müssen, deutlich höherer Refinanzierungskosten bis hin zu potenziell notwendigen Objektverkäufen, um Rücknahmeanträgen für Anteile an offenen Immobilienfonds nachkommen zu können.
Die Erwartung, dass die Marktverwerfung nicht ganz so heftig ausfallen dürfte wie im Gefolge der Weltfinanzkrise, könnte Banken dazu veranlassen – bestärkt durch die Slotting-Regelung der Bank of England und die Basel-III-Vorschriften in Europa –, sich schneller um Verkäufe zu bemühen. Solche Verkäufe könnten wiederum entsprechende Preisrückgänge am Immobilienmarkt auslösen.
In punkto Immobilienentwicklung gaben die Befragten an, dass für das nächste Jahr vorgesehene Projekte auf 2024 geschoben oder ganz aufgegeben werden könnten. Das Ausbleiben von Neuentwicklungen wird von einigen Branchenexperten als positiv für Bestandsobjekte und deren Eigentümer gewertet.
Laut Sabine Georgi, Geschäftsführerin des ULI in Deutschland, hat sich der Markt in den letzten Monaten rapide verändert und der Ausblick sich dabei zunehmend ins Negative gekehrt: Seit der Durchführung der Studie und der Befragungen im Sommer sei die damals schon tiefe Besorgnis der Branche noch größer geworden. Sie räumt ein:
Aber es gibt weiterhin viel Kapital, das darauf wartet, investiert zu werden. Zeit spielt dabei meistens keine so große Rolle, um die besten Gelegenheiten zu finden.
Damit die Branche den Sturm überstehen könne, so die Geschäftsführerin, seien neben der richtigen Bestandsauswahl ein starker Fokus auf ESG-Kriterien, operative Fähigkeiten und Kundenorientierung gefragt.
Im Städteranking tauschen Paris und Berlin die Plätze
Und Thomas Veith, Head of Real Estate PwC Deutschland und Global Leader Real Estate, erklärte, dass obwohl die ersten drei Plätze im Standortranking unverändert bleiben, sich die Investitions- und Entwicklungsperspektiven für alle 30 platzierten europäischen Standorte insgesamt verschlechtert haben. London stehe das zweite Jahr in Folge an der Spitze, gefolgt von Paris und Berlin, die die Plätze vom vergangenen Jahr getauscht haben. Die Städte, die in diesem Jahr den größten Aufwärtssprung im Ranking geschafft haben, seien Madrid, Lissabon und Kopenhagen.
Ganz oben im Ranking der Sektoren stehen das zweite Jahr in Folge neue Energieinfrastrukturen, was sich durch die historisch hohen Energiepreise und einen längerfristigen Trend erkläre, bei dem die Investoren ihr Engagement auf alternative Anlagen verlagern. Der Life-Sciences-Sektor stehe an zweiter Stelle, gefolgt von Rechenzentren auf Rang 3, so Veith weiter.
Veith abschließend: „Unter den Top10 dominieren auch verschiedene Wohnformen, anfangen bei Seniorenheimen/altersgerechten Wohnkonzepten bis hin zu Sozial- und günstigen Mietwohnungen. Interessanterweise bestehen auch mehr Bedenken bezüglich des Wohnungssektors, da hier eine zunehmende politische Unsicherheit herrscht.“
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