Immer wieder muss zu Streitigkeiten mit Berufsunfähigkeitsversicherungen der Bundesgerichtshof Klarheit zum vereinbarten Versicherungsschutz schaffen. So auch in einer ganz aktuellen Entscheidung, die von Wirth–Rechtsanwälte erstritten wurde.
Ein Beitrag von Tobias Strübing, Rechtsanwalt Wirth–Rechtsanwälte Rechtsanwälte in Partnerschaft mbB
Die rechtlichen Probleme beim Thema Berufsunfähigkeitsversicherung sind wahrlich vielfältig. Viele Streitigkeiten, die bei Gericht landen, drehen sich um medizinische Fragen. Etwa wenn unklar ist, ob der Betroffene wirklich derart erkrankt ist, dass er seine Tätigkeit dauerhaft nicht mehr ausüben kann. Ein weiteres Problemfeld ist häufig, ob der Versicherungsnehmer vor Abschluss der Versicherung die Gesundheitsfragen falsch beantwortet und damit eine Obliegenheitspflichtverletzung begangen hat.
Und last, but not least haben wir regelmäßig den Klassiker, dass die Versicherungsbedingungen von unbestimmten Rechtsbegriffen nur so strotzen, unklar gefasst sind und auch daraus Missverständnisse und Streitigkeiten entstehen. Nicht selten finden diese Probleme ihren Weg bis zum obersten Zivilgericht, dem Bundesgerichtshof (BGH).
Vor Kurzem erst hatte der BGH etwa entschieden, dass Befristungen von Versicherungsleistungen vom Versicherer immer begründet werden müssen – und stärkte damit maßgeblich den Verbraucherschutz (Urteil vom 09.10. 2019, IV ZR 235/18).
Auch das Urteil vom 18. Dezember 2019 (Geschäftszeichen: IV ZR 65/19) hat einen wichtigen Streit geklärt. Dort hatte der BGH entschieden, dass ein Berufsunfähigkeitsversicherer in einem Gerichtsverfahren auch dann das sogenannte Nachprüfungsverfahren durchführen muss, wenn er seine Leistung nicht anerkannt hat, der Versicherungsfall aber durch ein gerichtliches Gutachten bestätigt wurde. Dies betrifft vor allen Dingen Fälle, in denen ein von dem Gericht beauftragter Sachverständiger die Berufsunfähigkeit nur für einen bestimmten Zeitraum feststellen konnte. Das passiert häufiger, als man denkt, führt aber aufgrund der typischerweise in den Verträgen enthaltenen „Sechs-Monats-Klausel“ gleichwohl zunächst dazu, dass man einen unbefristeten Anspruch auf die Versicherungsleistung erhält.
Nachfolgend möchten wir Ihnen nun ein ganz aktuelles Urteil des BGH (vom 14.07.2021, Geschäftszeichen IV ZR 153/20) vorstellen, welches wir für den betroffenen Versicherungsnehmer erstritten haben.
In diesem Urteil geht es konkret um die Frage, wann der Versicherungsfall in der Berufsunfähigkeitsversicherung eintritt. Während die Klage vom Landgericht Berlin und dem Kammergericht Berlin noch abgewiesen wurde, gab der BGH dem Versicherungsnehmer recht (und verwies den Fall zurück an die Vorinstanz). Entscheidend war, wie eigentlich immer, was der Versicherer mit seinem Kunden in den Bedingungen vereinbart hat.
In unserem Fall fehlte eine besondere Vereinbarung – was dann für den Versicherungsnehmer günstig war. Hier hatte der Kläger nämlich mit seiner Berufsunfähigkeitsversicherung eine sogenannte Nachversicherungsgarantie vereinbart. Diese ermöglichte es ihm, den Versicherungsumfang ohne erneute medizinische Risikoprüfung zu erhöhen. Davon hatte der Kläger mitten in einer Krankheit Gebrauch gemacht und das führte dazu, dass die Versicherungsgesellschaft nur die geringere Rente und nicht die erhöhte Rente zahlen wollte.
Der Kläger erlitt am 29. Juli 2016 einen Arbeitsunfall, bei dem er sich beim Anheben eines Gegenstandes den Rücken verhob. Da der Kläger sehr jung ist und auch sonst keine Vorerkrankungen am Rücken oder der Wirbelsäule hatte, gingen seine Ärzte auch zunächst davon aus, dass die Schmerzen nach wenigen Wochen wieder ausheilen würden. Dementsprechend war er ab dem 29. Juli 2016 zwar arbeitsunfähig, wurde durch die Ärzte aber zunächst konservativ behandelt und sie gaben ihm eine gute Prognose, zeitnah wieder vollständig gesund zu werden. Dies galt auch noch am 11. Oktober 2016, als der Kläger die Erhöhung des Versicherungsschutzes um 100 Prozent aufgrund der Nachversicherungsgarantie verlangte. Diese Erhöhung bestätigte ihm die Versicherung mit einem Nachtrag vom 18. Oktober 2016 mit Wirkung zum 1. November 2016.
In der Folge stellte der Kläger aber fest, dass es mit einer schnellen Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit wohl nichts werden würde. Auch die Ärzte wurden Monate nach dem Arbeitsunfall zunehmend skeptischer. Der Kläger meldete daher im Dezember 2016 Leistungsansprüche an, die von der Berufsunfähigkeitsversicherung im September 2017 anerkannt wurden. Allerdings zahlte die Versicherung nur die am 29. Juli 2016 vereinbarte Rente von 500 Euro und nicht die im Nachtrag vom 18. Oktober 2016 vereinbarte höhere Rente von 1.000 Euro monatlich. Zur Begründung meinte die Versicherung, dass der Versicherungsfall bereits am 29. Juli 2016 eingetreten sei und daher nur die zu diesem Zeitpunkt vereinbarte Rente von 500 Euro monatlich fällig würde.
Damit lag sie falsch. Denn zum Versicherungsfall „Berufsunfähigkeit“ hatten die Parteien unter anderem Folgendes vereinbart:
„Vollständige Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person infolge von Krankheit, Körperverletzung ... 6 Monate ununterbrochen außerstande war oder voraussichtlich 6 Monate ununterbrochen außerstande ist, ihren zuletzt ausgeübten Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, auszuüben.“
Der Bundesgerichtshof führte zunächst aus, dass in der oben zitierten Klausel zwei Alternativen eines Versicherungsfalles geregelt sind. Das ist wenig überraschend und eigentlich in allen uns bisher bekannt gewordenen Versicherungsverträgen der Fall.
Die erste Alternative („6 Monate ununterbrochen außerstande war“) erfordert eine rückschauende Betrachtung, die erst nach Ablauf dieses dort genannten Sechsmonatszeitraums möglich ist. War der Versicherungsnehmer sechs Monate ununterbrochen zu 50 Prozent berufsunfähig, dann liegt der Versicherungsfall vor und er erhält seine Leistung. Diese Klausel bedeutet eine erhebliche Besserstellung für Versicherungsnehmer, da man darüber schon nach kurzer Zeit Leistungsansprüche erhält.
Die zweite Alternative („voraussichtlich 6 Monate ununterbrochen außerstande ist“) ist hingegen in die Zukunft gerichtet. Sie erfordert also eine sogenannte Prognose, dass der Kläger über sechs Monate voraussichtlich zu mindestens 50 Prozent berufsunfähig ist, und lässt sich erfahrungsgemäß und in der Regel nur sehr schlecht treffen.
Die erste Alternative des Versicherungsfalles konnte für den Kläger schon aus zeitlichen Gründen nicht greifen. Der Unfall war am 29. Juli 2016 und die höhere Versicherungsleistung wurde ihm schon zum 1. November 2016 bestätigt. Das war noch innerhalb der vereinbarten sechs Monate, die erst im Januar 2017 abgelaufen waren.
Aufgrund dieser Klausel dürfte auch die Versicherung ihre Leistungsverpflichtung anerkannt haben. Denn auch die schlechte Prognose der zweiten Alternative konnten die Ärzte des Klägers, wenn überhaupt, erst nach der Erhöhung der Versicherungsleistung zum 1. November 2016 stellen, nachdem klar war, dass konservative Behandlungsmethoden keinen Erfolg bei dem Kläger hatten.
Entscheidend war aber, dass laut dem BGH eine Auslegung der ersten Alternative ergab, dass der Versicherungsfall erst mit Ablauf der sechs Monate eingetreten ist. Das hatten die Versicherung und auch das Land- und Kammergericht Berlin noch anders gesehen, dabei einen wichtigen Aspekt aber übersehen. Laut dem BGH ergibt sich dies schon aus der Formulierung: „Vollständige Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person …“
Daraus folgert der Versicherungsnehmer laut dem BGH, dass damit der Versicherungsfall definiert werden soll und es grundsätzlich zwei Leistungsfälle geben soll. Ferner bestätigt der BGH unsere Rechtsauffassung auch darin, dass für den Versicherungsnehmer aufgrund dieser Formulierungen nicht erkennbar ist, dass in der ersten Alternative der Versicherungsfall zurückwirken solle; hier also auf den 29. Juli 2016. Dazu hätte es vielmehr einer ausdrücklichen Regelung in den Versicherungsbedingungen bedurft, die hier nicht vorhanden war.
Für den Kläger bedeutet diese Klarstellung des BGH, dass ihm aller Voraussicht nach nicht nur 500 Euro monatlich, sondern 1.000 Euro monatliche Berufsunfähigkeitsrente zustehen. Die in der ersten Alternative vereinbarten sechs Monate waren gerechnet vom 29. Juli 2016 erst im Januar vollendet und damit zu einem Zeitpunkt, zu dem die höhere Rente vereinbart war. Nun muss noch vor dem Kammergericht Berlin geklärt werden, ob bereits vor dem 01. November2016 die schlechte Prognose der zweiten Alternative hätte gestellt werden können, was wir aber eher bezweifeln.
Im Ergebnis wurde mit diesem wichtigen BGH-Urteil Klarheit darüber geschaffen, wann der Versicherungsfall in der Berufsunfähigkeit eingetreten ist. Außerdem zeigt dieses Urteil erneut, dass es in einem Leistungsfall wirklich immer erforderlich ist, die Bedingungen genau zu lesen und gegebenenfalls auch etwas Durchhaltevermögen mitzubringen, um zum Erfolg zu kommen.
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