Anfang September gab Gazprom bekannt, dass die Gaspipeline Nord Stream 1 nach ihrer „Wartungsphase“ tatsächlich stillgelegt bleiben würde. Russland behauptete daraufhin, dass die europäischen Sanktionen eine Reparatur der beschädigten Turbinen unmöglich machen würden. Die Reaktion der Märkte auf diese Nachricht fiel erstaunlich verhalten aus, die Aktien- und Kreditmärkte gaben nur leicht nach.
Ein Marktkommentar von George Curtis, Portfoliomanager, TwentyFour Asset Management
Letztlich dürfte die Nachricht nicht sonderlich überrascht haben, da die Kapazitäten bereits erheblich reduziert worden waren und vorab Ausreden dafür gefunden wurden, warum der Stromfluss nicht wieder aufgenommen werden konnte.
Angesichts der Tatsache, dass Europa ein Winter mit möglicher Rezession und sogar Gasrationierung bevorsteht, sollte man denken, dass das kurzfristige Ausfallrisiko bei europäischen Unternehmensanleihen dramatisch angestiegen wäre. Unserer Meinung nach sprechen die Fundamentaldaten aber nach wie vor nur für eine gedämpfte Ausfallprognose.
Starker Liquiditätssituation der Unternehmen
Unternehmensausfälle brauchen einen Katalysator und werden in der Regel durch einen der drei Hauptfaktoren ausgelöst:
- Dem Unternehmen geht das Geld aus.
- Das Unternehmen ist nicht in der Lage, eine anstehende Fälligkeit zu refinanzieren.
- Das Unternehmen verstößt gegen eine vertragliche Verpflichtung.
Im Allgemeinen sind die Unternehmen in einer wirklich starken Position in das Jahr 2022 gestartet. Der Anteil der liquiden Mittel an der Verschuldung beispielsweise erreichte am Ende des ersten Quartals ein Rekordhoch und lag deutlich über dem längerfristigen Durchschnitt (30 Prozent im ersten Quartal 2022 gegenüber einem 19-Jahres-Durchschnitt von 19 Prozent).
Während wir zu Beginn des Jahres erwartet hätten, dass ein großer Teil dieser Barmittel für Dividenden, Aktienrückkäufe oder Fusionen und Übernahmen verwendet werden würde, nutzen die Unternehmen den Puffer nun zu Recht, um ihre Bilanzen in diesem unsicheren makroökonomischen Umfeld zu schützen.
Angesichts des sehr großen Angebots im Jahr 2021 (etwa 150 Mrd. Euro an europäischen Hochzinsanleihen) konnten die Unternehmen außerdem ihre Anleihen auslaufen lassen, was das kurzfristige Refinanzierungsrisiko verringert hat, da der Großteil der Hochzinsanleihen zwischen 2025 und 2026 fällig wird. Die Emissionen in den Jahren vor 2021 waren in der Regel auch weniger restriktiv, da viele Schwellenwerte während der Corona-Krise neu ausgehandelt wurden, was das Risiko eines Verstoßes gegen die Covenants reduzierte.
Alles in allem führt uns dies zu der Annahme, dass ein kurzfristiger Anstieg der Ausfallrate unwahrscheinlich ist, insbesondere angesichts der umfangreichen Steuererleichterungen, die die Verbraucher von ihren Regierungen erhalten werden. Das Vereinigte Königreich wird beispielsweise ein Paket in der Größenordnung von 100-150 Milliarden Pfund ankündigen, das die Inflationsprognosen senken, die Wachstumsaussichten verbessern und die Arbeitslosenprognosen senken dürfte.
Betrachtet man die Daten auf Indexebene, so stimmt der Markt dieser Einschätzung weitgehend zu. Während das makroökonomische Umfeld das systemische Risiko erhöht, scheint das idiosynkratische Unternehmensrisiko begrenzt zu sein.
Damit meinen wir, dass der Gesamtspread des Index deutlich über dem historischen Niveau liegt. Derzeit liegen wir beispielsweise bei europäischen Hochzinsanleihen rund 175 Basispunkte über dem 10-Jahres-Durchschnitt, aber die Distress Ratio (der Prozentsatz des Index, der über einem Spread von 1.000 Basispunkten gehandelt wird) bleibt mit 5 Prozent relativ niedrig.
Zum Vergleich: Im März 2020 lag die Distress Ratio bei rund 30 Prozent und erreichte im Februar 2016 während des Ausverkaufs der Energieaktien in den USA 14 Prozent. Zur Erinnerung: Die historische Umwandlung von notleidenden Anleihen in Zahlungsausfälle lag im Allgemeinen zwischen 10 und 20 Prozent.
Emittenten mit niedrigem Rating meiden
Auch wenn die Volatilität in nächster Zeit wahrscheinlich hoch bleiben wird und wir davon ausgehen, dass die Ausfälle von ihrem Rekordtief zurückgehen werden, sind die längerfristigen Renditeaussichten für Hochzinsanleihen unserer Meinung nach gut, insbesondere wenn Anleger die Emittenten mit niedrigerem Rating meiden, die dem aktuellen Umfeld am stärksten ausgesetzt sind.
Aus unserer Sicht bedeutet dies, dass wir uns auf Namen mit starker Preissetzungsmacht konzentrieren, während wir unser Engagement in energieintensiven Sektoren wie Chemie, Papier und Verpackung sowie im europäischen Einzelhandel reduzieren.
Die Anleger wurden in den letzten Wochen mit einer Reihe von Negativschlagzeilen bombardiert, und aller Wahrscheinlichkeit nach wird sich dies fortsetzen, da die Zentralbanken weitere Zinserhöhungen durchsetzen, die Inflation hoch bleibt und sich die Energiekrise in Europa mit dem nahenden Winter verschärft. Als Anleger in festverzinslichen Wertpapieren behalten wir jedoch die Renditen und Ausfallrisiken im Auge, und beides macht uns auf dem derzeitigen Niveau Mut.
Themen:
LESEN SIE AUCH
Nicht die Zinspolitik bestimmt das Ausmaß der Rezession
Nicht die heutige Inflation und der Verlauf der Zinserhöhungen, sollte die Aufmerksamkeit der Ökonomen beherrschen, sondern vielmehr wie die gaspreissenkenden Bemühungen der Regierungen in Europa, das Verbraucherverhalten von morgen beeinflussen werden.
Wege aus der Vielfachkrise – Ausblick auf 2023
2022 ist gezeichnet von vielzähligen Krisen, die auch die Finanzmärkte beeinflussen. Zudem vollziehen viele Notenbanken einen geldpolitischen Kurswechsel. Mit welchen Trends Investoren in diesem Umfeld anhaltender Volatilität und zunehmend angespannter Liquidität rechnen sollten.
So lässt sich ein gutes Jahr erfolgreich abschließen
Es scheint tatsächlich das Soft-Landing eingetreten zu sein, auf das viele gehofft, aber nur wenige gebaut haben. Mittlerweile haben sich die Märkte auf diese zentrale Prämisse festgelegt und zeigen sich positiv. Um nun das Jahr erfolgreich abzuschließen, bedarf es einer Bestätigung dieser Annahme.
Die Fed, die EZB und der Beinahe-Crash der Banken
Die Spannungen bezüglich der US-Regionalbanken, die SVB-Pleite und die Übernahme der Credit Suisse als Ansteckungspunkt in Europa sind eine indirekte Folge und ein unerwünschter Nebeneffekt im Kampf gegen die Inflation, den Fed und EZB um jeden Preis führen wollten.
Unsere Themen im Überblick
Themenwelt
Wirtschaft
Management
Recht
Finanzen
Assekuranz
In der Steuerung des Kreditrisikos liegt ein strategischer Hebel
Protektionismus, Handelskonflikte, geopolitische Risiken – die Unsicherheit an den Märkten bleibt hoch. Passive Kreditstrategien stoßen in diesem Umfeld schnell an ihre Grenzen. Warum gerade aktives Management und ein gezielter Umgang mit Kreditaufschlägen den Unterschied machen können, erklärt Jörg Held, Head of Portfolio Management bei Ethenea.
Mehrheit befürwortet Rüstungsinvestments – Akzeptanz steigt auch bei nachhaltigen Fonds
Private Geldanlagen in Rüstungsunternehmen polarisieren – doch laut aktueller Verivox-Umfrage kippt die Stimmung: 56 Prozent der Deutschen halten solche Investments inzwischen für legitim. Auch nachhaltige Fonds greifen vermehrt zu.
PKV-Initiative „Heal Capital 2“: Neuer Fonds, neue Investoren, neue Start-ups
Digitale Wartung, KI-Zertifizierung, stärkere europäische Vernetzung: Der PKV-Investitionsfonds Heal Capital geht mit neuer Schlagkraft an den Start – und will die digitale Versorgung nachhaltig verändern. Doch welche Start-ups profitieren zuerst?
„Was zu gut klingt, um wahr zu sein, ist es meistens auch“
Von unseriösen Werbeversprechen bis KI-Euphorie: Im zweiten Teil des Interviews mit Tim Grüger geht es um Trends im Daytrading, die Erwartungen von Kunden und den Kampf gegen Finanz-Fake-News. Plus: Was TradingFreaks für die Zukunft plant – und welchen Rat der Gründer Anfängern mit auf den Weg gibt.
Die neue Ausgabe kostenlos im Kiosk
Werfen Sie einen Blick in die aktuelle Ausgabe und überzeugen Sie sich selbst vom ExpertenReport. Spannende Titelstories, fundierte Analysen und hochwertige Gestaltung – unser Magazin gibt es auch digital im Kiosk.