Mittlerweile ahnen Industrieversicherer, was die Stunde schlägt: Die Digitalisierung wird auch das Geschäft mit Mittel- und Großunternehmen radikal verändern. So hat die Industrie 4.0 einen anderen Absicherungsbedarf als ihre Vorstufen und auch Kunden und Vertriebspartner stellen heute höhere Anforderungen an die digitale Zusammenarbeit mit den Versicherern.
Während zahlreiche Studien den digitalen Wandel des Geschäfts mit kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) sowie mit dem Kleinstgewerbe beschreiben, stand das Industriesegment ab einem Umsatzvolumen von 25 Millionen Euro aufwärts bislang nicht im Fokus.
Eine gemeinsame Untersuchung von Marsh und Oliver Wyman zeigt auf, dass auch im Segment Industrieversicherung vermehrt digitale Anforderungen Einzug halten. Im Rahmen der Analyse „State of Play – Digitalisierung in der deutschen Industrieversicherung“ wurden 19 bedeutende Industrieversicherer in Deutschland zum Stand ihrer Digitalisierungsinitiativen befragt, Unterschiede herausgearbeitet und darauf aufbauend Zukunftsszenarien entworfen.
95 Prozent der Umfrageteilnehmer halten die Digitalisierung explizit im Geschäft mit mittleren und großen Industrieunternehmen für wichtig. Für 84 Prozent führt kein Weg an einer zunehmenden Digitalisierung aller Abläufe vorbei. 79 Prozent sagen deshalb eine Veränderung ihres Geschäftsmodells voraus. Dementsprechend räumen 90 Prozent dem Auf- und Ausbau ihrer digitalen Fähigkeiten in den nächsten Jahren höchste und hohe Priorität ein.
Die Studie stellt fest, dass zwischen zwei Gruppen von Versicherern differenziert werden sollte. Die eine fokussiert sich auf Lösungen zur Kundeninteraktion und intelligente Systeme für komplexe Prozesse, wohingegen die andere stärker eine Digitalisierung der Massenprozesse vorantreibt.
Bionische Digitalisierung
Aktuell steht der digitale Wandel der Industrieversicherung ganz am Anfang. So werden die Technologien hinter den Schlagwörtern Künstliche Intelligenz, Internet der Dinge und Blockchain von den Versicherern bisher kaum angewendet. Lediglich in Sachen Datenanalyse und Prognosemodelle sagen 18 Prozent der Befragten, dass sie über „voll ausgebaute“ beziehungsweise im Branchenvergleich sogar „führende“ technologische Fähigkeiten verfügen.
Angesichts der Bedeutung für das Risikomanagement und ebenso für das digitale Kundenerlebnismanagement, ist dieser Anteil noch bescheiden. Zwei Drittel der Versicherer wollen derzeit ihre Kompetenzen in allen vier Technologiefeldern erweitern und entsprechend investieren.
Dabei positioniert sich die Branche klar gegen eine Volldigitalisierung. Fast alle Studienteilnehmer (95 Prozent) sehen als Zielbild eine „bionische Digitalisierung“. Dabei wird der Mensch im Tagesgeschäft nicht komplett von der Technik ersetzt, sondern seine Fähigkeiten werden gezielt ergänzt.
Für Industrieversicherers gibt es einige Möglichkeiten bestehende Prozesse zu optimieren. Erste vielversprechende Anwendungsfälle existieren bereits. Sie gehen über den klassischen Gedanken des „Versicherns“ hinaus und fokussieren stärker Aspekte des Risikomanagements, also des „Schützens“. Anbieter haben die Chance, sich vom analogen Produktgeber zum digitalen Risikopartner jedes einzelnen Kunden weiterzuentwickeln.
Erfahrungsschätze aus dem Kundensegment KMU helfen jedoch nur bedingt weiter, da die Charakteristika des Geschäfts mit Mittel- und Großindustriekunden – Komplexität, Individualität, Internationalität – zu anderen Anforderungen und damit anderen Handlungsempfehlungen führen.
Enormes Potenzial
Die Versicherer könnten für eine Optimierung zum Beispiel durch Digitalisierung ihres Schadenmanagements erhebliche Effizienzgewinne realisieren. Der Bereich Schaden ist in der Regel der größte Kostenblock eines Versicherers. Gleichzeitig ist hier der Digitalisierungsgrad über alle Sparten hinweg äußerst gering.
Eine „End-to-End“ automatisierte Schadenbearbeitung kennt die Assekuranz bislang nur in der Autoversicherung. Dabei ist aus Kundensicht die Schadenregulierung stets der „Moment der Wahrheit“.
Thomas Olaynig, Stellvertretender Chief Market Officer bei Marsh, weiß:
„Versicherer, die im Schadenfall überzeugen, binden Kunden auf Dauer an sich.“
Und der Vertrieb erhält ein schlagkräftiges Argument an die Hand. Mehr noch: Die realisierbaren Kostensynergien könnten in einer für den Kunden günstigeren Prämie münden. Stark ausbaufähig sind auch Dienstleistungen zur Vorbeugung und Linderung von Schäden (Pre-Claim-Services). Bei nur 16 Prozent der Befragten kommen dafür geeignete Werkzeuge zum Einsatz.
Diese Potenziale zu heben, ist nicht nur eine Frage der technologischen Möglichkeiten, sondern auch der unternehmerischen Weitsicht.
Jens-Daniel Florian, Leiter Strategie bei Marsh, kommentiert:
„Versicherer und ihre Entscheidungsträger müssen auf nahezu allen Ebenen den Begriff Risiko weiterdenken. Dafür notwendig sind neue, viel umfassendere Lösungen, die einem Kunden zum Teil nur mit Partnern zur Verfügung gestellt werden können.“
Das wiederum verlangt von etablierten Anbietern Mut, neue Wege einzuschlagen sowie Offenheit gegenüber Innovationen und Ideen. Weil es dabei auch auf Schnelligkeit ankommt, ist zudem die Aufnahmebereitschaft von Dritten von größter Bedeutung. Letztlich entsteht ein Netzwerk miteinander agierender Unternehmen.
Im Idealfall führt so ein digitales Ökosystem zu einheitlichen Standards, ohne die eine Industrie 4.0 nicht denkbar ist. Wo die Versicherer sich auf diesem Weg aktuell befinden und wie sie dabei im Einzelnen vorgehen, auch das analysiert die erste Studie zur Digitalisierung der Industrieversicherung in Deutschland.
https://www.experten.de/2017/11/24/digitalisierung-ist-businesstreiber-im-mittelstand/
https://www.experten.de/2017/11/23/wer-digitale-spielregeln-nicht-beachtet-verliert/
https://www.experten.de/2017/11/21/digitalisierung-ist-strategie-nicht-nur-technik/
Bilder: (1) © llhedgehogll / fotolia.com (2-5) © Marsh / Oliver Wyman
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