Hanseatische Tugenden im 21. Jahrhundert: Sinn oder Unsinn?

© Sebastian Heithoff

Wie sinnvoll ist es, sich mit Themen wie „Werten“, „Ethik“ oder einer „Unternehmensphilosophie“ zu befassen? Ist das alles nicht verschwendete Zeit, die uns im Vertrieb/Betrieb fehlt? Eine brotlose Arbeit für jene Lebenskünstler, die unsere Branche heute heimsuchen wie einst die Lead-Generierungs-Coaches? Was bringt es im Jahr 2023 darüber nachzudenken, was ein Johann Buddenbrook („Die Buddenbrooks“) für „anständig“ gehalten hätte? Ich sage: Es bringt uns eine ganze Menge!

Ein Impuls von Sebastian Heithoff, Heithoff Consulting– bislang einziges außerordentliches VEVK-Mitglied

Sebastian Heithoff, Heithoff Consulting © Heithoff Consulting

Neben dem Thema Nachhaltigkeit im Versicherungsvertrieb und der Finanzbildungs-Initiative Zukunftstag, waren die „klassischen“ hanseatischen Tugenden das dritte Vortragsthema bei der Mitgliederversammlung 2023 des Vereins Ehrbarer Versicherungskaufleute (VEVK) e.V. in der Handelskammer Hamburg. Welchen Sinn sollen Ethik und Moral in unserer heutigen Zeit noch – oder gerade – haben?

Der Versicherungsvertrieb ist seit jeher geprägt durch ein hohes Maß an Messbarkeit: Bestandsausschöpfungsquote, Abschlussquote, Terminquote und vieles mehr. Die Vergütung wird penibel verhandelt und wer viel Neugeschäft bringt, kann auch anno 2023 solide Geld verdienen. Ob ein gutes Geschäft für Vermittler oder Makler jedoch auch zwingend ein gutes Geschäft für deren Kundschaft ist, steht auf einem anderen Blatt. Und genau mit diesem Blatt fangen unsere Probleme seit jeher an …

Kann es unser Anspruch als Kaufleute sein, dass wir unsere Vergütungssysteme und teils ganze Vertriebswege so aufsetzen, dass entgegen gesetzlicher Regelung (Stichwort IDD!) nach wie vor Produkte verkloppt werden – und zwar von der Mehrheit der Versicherer und fast jeder AO? Brauchen wir wirklich eine EU, die uns zwingen muss, uns schmale 15 Stunden im Jahr qualifiziert weiterzubilden, statt freiwillig zum Beispiel 50 zu machen? Und wie viele Vertriebler verstoßen beispielweise regelmäßig gegen die Beratungs- und Dokumentationspflichten des VVG? Kann und darf dies der Anspruch an eine zukunftsfähige Assekuranz in Deutschland sein?!

Den ehrbaren Kaufmann aus dem dunklen Kämmerchen lassen

© Sebastian Heithoff

Dass es vor gut 10 Jahren im Bundesverband Deutscher Versicherungskaufleute (BVK) e.V. bei den Vordenkern rumorte und man sich sagte, „Die Branche hätte den ehrbaren Kaufmann nie vergessen dürfen!“, wundert mich da wenig. Denn mit einem fein justierten moralischen Kompass sind diverse Zustände in unserer Assekuranz einfach nur schwer auszuhalten. Dabei ist es an jeder und jedem von uns, beim eigenen Verhalten anzusetzen und im Rahmen unserer Möglichkeiten positive Wirkung zu entfalten.

Es gibt auch heute ganz wunderbare, qualifizierte und ethisch einwandfrei arbeitende Versicherungsvermittler in Deutschland, egal ob Ausschließlichkeit, MFA oder Versicherungsmakler. Doch durch die Eskapaden der letzten Jahrzehnte (Budapester Therme, 21 MB KV-Provision, Bestechung von Beamten und vieles mehr) ist das Branchen-Image zu Recht angelaufen wie Messing mit Grünspan. Und trotzdem ist die Versicherungsbranche mit viel Gutem durchzogen, angefangen mit den vielen ehrbaren Kaufleuten, die es immer in ihr gab und geben wird. Doch diese müssen sichtbarer und auch vor allem lauter werden!

© Sebastian Heithoff

Auf VEVK.de heißt es: „Aus der über hundertjährigen Vertretung der Interessen aller Vermittler in Deutschland hat der BVK unter Rückgriff auf bewährte Kaufmannstugenden einen Katalog von Berufsregeln erarbeitet und Berufsstandsangehörigen die Möglichkeit gegeben, sich öffentlich dazu zu bekennen.“

Bekennen beginnt bei unserer ethischen und moralischen Ausrichtung, setzt sich fort über unseren Umgang und findet im Idealfall Ausdruck in unserer kommunikativen Positionierung und unserem Engagement in der Branche (Verbände, Vereine, Pressewirkung, etc.). Wir erleben jedoch in den letzten Jahren einen Dauerzustand der Überforderung durch Regulatorik, Digitalisierung, Fachkräftemangel und Co., der viele Branchenteilnehmer hindert, bewusst einen Schritt zurück zu gehen und „Unternehmerzeit“ für sich zu machen.

© Sebastian Heithoff

Gönnen Sie sich aktiv Unternehmerzeit

So viele wunderbare Kolleginnen und Kollegen fühlen sich im Vertrieb wie in einem Hamsterrad, gerade da im Durchschnitt nur etwa 30 Prozent der Arbeitszeit von Vertrieblern wirklich „am Kunden“ stattfindet und viel mehr Aufwand für Organisatorisches draufgeht.

© Sebastian Heithoff

Mein Appell: Gönnen Sie sich regelmäßig Selbstreflexion (oder begleitete Auszeiten mit einem Coach) und denken Sie aktiv in die Zukunft! Fangen Sie initial jedoch ganz am Anfang an: Wer bin ich? Wofür stehe ich? Wie möchte ich mit mir selbst und anderen umgehen? Was sollen Menschen über mich sagen, wenn ich nicht im Raum bin? Wieso bin ich empfehlenswert, welchen Mehrwert habe ich für andere?

Als „alte“ hanseatische Tugenden gelten unter anderem Verbindlichkeit (Wort und Handschlag gelten etwas), Bodenständigkeit (nicht den 500er SL als Ego-Pumpe), Geschäftstüchtigkeit (Unternehmen weiter ausbauen, statt Bestände zu verwalten), Weitblick (in 5 Jahres-Zielen statt in Quartalen zu denken), Fairness (Transparenz & Umgang auf Augenhöhe), Gemeinwohl (andere am Erfolg teilhaben lassen), Sparsamkeit (achtsamer Umgang mit den irdischen Ressourcen) und Welt-/Offenheit (Chancen statt Risiken zu sehen, Neues kennenlernen).

Klingt nur wenig nach dem Versicherungsvertrieb der letzten 40 Jahre, oder? Nun gut, es gibt zum Glück rühmliche Ausnahmen.

Tatsächlich wurden bei einigen Betrieben der Branche die Tugenden hanseatischer Kaufleute nie vergessen. Diese Unternehmen kennen ihre Werte, haben eine spürbare, innen wie außen erlebbare Unternehmenskultur und sind in aller Regel auch solche Unternehmen, bei denen mit Fluktuation weniger zu kämpfen ist (wobei dies heutzutage kein alleiniger Indikator mehr sein kann). Im Unternehmen gibt es einen gemeinsamen moralischen Kompass, was richtig und was falsch ist. Und nach diesen Werten wird gelebt und gehandelt! Sie sind mehr als schöne Worte an der Wand.

© Sebastian Heithoff

Den Vertrieb des 20. Jahrhunderts aktiv aus der Branche verdrängen

„Sei mit Lust bei den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, dass wir bei Nacht ruhig schlafen können,“ ist das Motto von Johann Buddenbrook sen. in den „Buddenbrooks“ (1901) von Thomas Mann. Das einzige Problem an dieser wunderschönen Maxime ist, dass mancher auch mit 21 MB Provision in der KV gut schlafen kann. Weil der moralische Kompass einer gewissen Neukalibrierung bedarf. Dies kann jedoch nur dann funktionieren, wenn es für solche Art zu arbeiten keine Abnehmer bei den Versicherern mehr gibt.

© Sebastian Heithoff

Das Problem ist also nicht von heute auf morgen zu lösen – außer wenn jede und jeder von uns bewusst einen Schritt zurück macht und bei sich selbst anfängt: Macht es Sinn, ein bestimmtes Geschäft zu machen, auch wenn ich weiß, dass es vielleicht in Storno geht? Will ich mit diesem Kunden arbeiten, obwohl ich weiß, dass er Dreck am Stecken hat? Arbeite ich mit einem Produktpartner auf VU-Seite, dessen Zusagen nicht gehalten werden?!

Wir sollten uns selbst im Spiegel anschauen können, wenn wir uns solche Fragen beantworten. Und uns vielleicht auch fragen, was Johann Buddenbrook senior dazu sagen würde. Wer ihn nicht kennt, sollte einmal Thomas Manns Literaturnobelpreis-Roman „Die Buddenbrooks“ lesen. Auch wenn dort Johann Buddenbrook junior und dessen Kinder im Mittelpunkt stehen.

Ich hoffe, ich konnte Ihnen zu diesem ethisch hochgradig spannenden Themenkomplex einige Impulse geben! Gerne können wir hierzu auch (sachlich) diskutieren – zum Beispiel live auf den Messen & Events unserer Branche in Norddeutschland oder auf LinkedIn!

Zum Autor

Sebastian Heithoff (*1986) ist aus Familientradition Teil der Versicherungsbranche. Der Fachwirt für Versicherungen und Finanzen (IHK) berät Versicherungsvermittlerbetriebe (Fokus: Gewerbe- und Industrieversicherungsmakler) zum Thema „kommunikative Positionierung“.

Bild (2–8): © Sebastian Heithoff