Wie digital ausgereift sind Versicherer im Jahr 2023?

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Die Versicherungsbranche, die traditionell für ihren vorsichtigen, konservativen Ansatz bekannt ist, hat in den letzten Jahren bedeutende Veränderungen erlebt und neue digitale Technologien als Reaktion auf die Anforderungen der Verbraucher und die Dynamik des Marktes eingeführt. Doch wie weit sind die Versicherer im digitalen Bereich fortgeschritten? Und wie gut sind sie darauf vorbereitet, die nächste Stufe der neuen Technologien rund um künstliche Intelligenz (KI) und Automatisierung in Angriff zu nehmen?

Ein Beitrag von Marie-Pierre Garnier, VP Marketing & Communications, Cortical.io

In diesem Artikel gehen wir der Frage nach, wie groß die digitalen Fortschritte sind, wie die Versicherungsbranche im Vergleich zu anderen Branchen aufgestellt ist und wie die Zukunftsaussichten für 2024 und darüber hinaus aussehen.

Der Stand des digitalen Fortschritts

In den letzten Jahren sahen sich die Versicherer, die sich lange Zeit gegen bedeutende Veränderungen gesträubt hatten, gezwungen, digitale Initiativen zu beschleunigen. Untersuchungen von KPMG deuten jedoch auf einen deutlichen Wandel hin: 85 Prozent der CEOs von Versicherungsunternehmen sehen die Pandemie als Katalysator für die Digitalisierung von Geschäftsabläufen und die Einführung neuer Betriebsmodelle. 

Spulen wir bis 2023 vor, und es scheint, als wollten die Versicherer mit dem Tempo der Veränderungen Schritt halten. Laut dem Marktforschungsunternehmen Gartner integrieren 43 Prozent der Versicherer aktiv künstliche Intelligenz in ihre Abläufe, und 83 Prozent werden voraussichtlich bis 2025 mit dem Einsatz von KI beginnen.

Wie schneiden Versicherungen im Vergleich zu anderen Branchen ab?

Der BCG Digital Acceleration Index (DAI) bewertet verschiedene Branchen anhand ihrer digitalen Fähigkeiten und ihrer Bereitschaft, neue Technologien zu integrieren. Das Versicherungswesen konnte seinen Wert von 48 im Jahr 2019 auf 55 im Jahr 2022 steigern. Trotz dieser deutlichen Verbesserung liegt die Versicherungsbranche jedoch immer noch hinter fast allen anderen Branchen zurück, darunter das Gesundheitswesen, der Finanzsektor und die Konsumgüterindustrie.

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Noch besorgniserregender ist, dass der EBIT-Vorteil (EBIT = Gewinn vor Zinsen und Steuern) mit 16 Prozent der niedrigste aller Branchen ist. Der EBIT-Vorteil ist eine Kennzahl, die sich auf den EBIT-Überschuss der besten 25 Prozent der digital fortschrittlichen Unternehmen im Vergleich zu den unteren 25 Prozent bezieht. Der vergleichsweise niedrige Wert deutet darauf hin, dass Versicherungsunternehmen nicht so viel finanziellen Nutzen aus ihren digitalen Initiativen ziehen wie andere Branchen.

Allerdings gibt es auch innerhalb der Versicherungsbranche Unterschiede, da die Unternehmensgröße ein Schlüsselfaktor für den digitalen Reifegrad ist. Eine Gartner-Studie ergab, dass 51 Prozent der Versicherungsunternehmen mit einem Umsatz von mehr als 10 Mrd. US-Dollar derzeit KI einsetzen, während es bei den kleineren Versicherern nur 34 Prozent sind. 

Generell zeigen die Daten, dass größere Versicherungsunternehmen in der Regel eine höhere KI-Akzeptanz und ein höheres Maß an Data Analytics-Kompetenz aufweisen und eher über Organisationsstrategien sowie Business- und IT-Talente verfügen.

Digitale Initiativen haben einen direkten Einfluss auf den Umsatz

Die Versicherer haben also ihre Prozesse teilweise digitalisiert, aber sie machen weniger Fortschritte als andere Branchen. Ist das von Bedeutung? Nun, ja. Bei der Einführung neuer Technologien geht es nicht nur darum, auf dem neuesten Stand zu bleiben: Sie wirken sich auf jeden Bereich des Unternehmens aus, auch auf die Umsatzentwicklung.

Laut Gartner sah die Hälfte der Versicherungsunternehmen, die ihre digitalen Initiativen verdoppelten, einen deutlichen Anstieg der Einnahmen. Andererseits erzielte weniger als ein Viertel der Unternehmen, die ihre digitalen Strategien nicht verbesserten, ähnliche Ergebnisse. Dies zeigt den finanziellen Vorteil für Unternehmen, die sich verstärkt der digitalen Transformation widmen.

Insgesamt sehen wir zunehmend eine klare digitale Kompetenzlücke, die die Versicherungsunternehmen in zwei Lager spaltet: diejenigen, die sich der Herausforderung stellen, und diejenigen, die den Kopf in den Sand stecken. Dies deutet stark darauf hin, dass diejenigen, die nicht aufholen, immer weiter zurückfallen werden.

Digitale Fähigkeiten spielen heute eine wichtigere Rolle als je zuvor. Versicherer mit einem höheren digitalen Reifegrad sind besser ausgestattet, um die drei größten Herausforderungen zu bewältigen, mit denen die Versicherungsbranche derzeit konfrontiert ist: wirtschaftlicher Druck, Talentknappheit und Supply Chain-Engpässe. Die Versicherer brauchen KI und Automatisierung, um diesem dreifachen Druck standzuhalten.

Nachrichtenberichten zufolge hat beispielsweise die Inflation zu einem Anstieg des Versicherungsbetrugs geführt. Versicherungsunternehmen mit KI-Fähigkeiten können Machine Learning einsetzen, um potenziell betrügerische Informationen während des Schadenregulierungsprozesses zu erkennen. Unternehmen, die digital nicht so weit fortgeschritten sind, werden in Zukunft immer mehr Schwierigkeiten haben, Betrug zu erkennen, was zu einer Verschwendung von menschlichen und finanziellen Ressourcen führt. Aus diesem Grund ist KI weder optional noch ein “ Hobbyprojekt “ (falls es das jemals war).

Was können Versicherungsunternehmen also tun, um ihren digitalen Reifegrad zu erhöhen?

5 Schritte auf dem Weg zur digitalen Reife im Versicherungswesen

Hier sind unsere fünf wichtigsten strategischen Empfehlungen zur Erreichung digitaler Reife und zur Realisierung der vollen Vorteile von KI-Projekten:

1. Anwendungsfälle priorisieren, die konkrete Business-Probleme lösen

Die Auswahl von Use Cases, die sich direkt mit den Top-Unternehmensprioritäten befassen, ist entscheidend, um mit KI und anderen Technologien eine spürbare Wirkung zu erzielen. Durch die Identifizierung und Implementierung von Anwendungsfällen, die wichtige Geschäftsprobleme lösen, wie zum Beispiel die Verbesserung des Kundendienstes oder die Steigerung der Betrugserkennung, wird sichergestellt, dass KI-Investitionen in Bereiche gelenkt werden, die einen messbaren Ertrag und Mehrwert für das gesamte Unternehmen liefern.

2. Erstellen einer umfassenden KI-Roadmap, die sich an KPIs orientiert

Erstellen Sie eine KI-Roadmap, die durch die einzelnen Phasen der KI-Integration in Ihren Versicherungsprozessen führt. Diese Roadmap sollte einen bewussten, stufenweisen Ansatz für die KI-Implementierung skizzieren. Die eingebetteten KPIs sollten sicherstellen, dass alle KI-Initiativen auf bestimmte Business Ziele genau ausgerichtet sind und diese aktiv vorantreiben. So wird sichergestellt, dass KI-Investitionen eng an die Unternehmensstrategie ausgerichtet sind.

3. Über Data Analytics hinausgehen

Versicherer sollten ihre KI-Strategien erweitern, damit sie mehr als nur Data Analytics umfassen. Fortschrittliche Machine Learning- und Natural Language Processing-Algorithmen, wie Semantic Folding, sind mittlerweile in der Lage, unstrukturierten Text zu verarbeiten und ermöglichen eine Reihe neuer Anwendungsfälle.

Versicherer können diese Technologien nutzen, um die Verarbeitung von Dokumenten zu beschleunigen und zu automatisieren, wodurch Zeit gespart und die Genauigkeit in Bereichen wie Underwriting und Schadensbearbeitung verbessert wird. Darüber hinaus sollten Versicherer in Erwägung ziehen, generative KI zu testen, um konversationsbasierte Schnittstellen und Chatbots zu verbessern.

4. Förderung von spezialisierten Talenten

Investitionen in die Weiterbildung und das Rekrutieren von qualifizierten Talenten sind von entscheidender Bedeutung. Stellen Sie sicher, dass Ihr Team in der Lage ist, sich souverän mit KI-Technologien und Datenanalyse zu befassen. Nur so werden eine reibungslose Einführung von neuen Technologien gewährleistet, sowie eine Umgebung geschaffen, die Innovation und strategisches Problemlösen fördert.

5. Customer Experience in den Mittelpunkt stellen

Führen Sie technologische und menschliche Elemente zusammen, um sicherzustellen, dass die Customer Experience sowohl automatisiert als auch personalisiert ist. Nutzen Sie KI, um Kundenanfragen effizient zu verwalten und weiterzuleiten, und bewahren Sie gleichzeitig den wesentlichen menschlichen Touch bei hochwertigen Kundeninteraktionen, insbesondere in Bereichen, die für das Kundenerlebnis sensibel sind.

Fazit

Der digitale Reifegrad von Versicherungsunternehmen ist nach wie vor unzureichend, und es gibt viele Lücken, die geschlossen werden müssen. Trotz ermutigender Entwicklungen ist eine umfassende digitale Reife immer noch ein Ziel am Horizont.

In Zukunft müssen Versicherungen sicherstellen, dass der digitale Fortschritt einen Beitrag zur Verbesserung der Geschäftsergebnisse liefert. Neue Technologien sollen strategisch so eingesetzt werden, dass kritische Geschäftsprobleme gelöst werden, zum Beispiel die Kundenzufriedenheit verbessert und der Umsatz erhöht. Nur so werden die Versicherer den vollen Nutzen aus ihren digitalen Initiativen ziehen und ihre Marktposition stärken.

Bild (2): © Boston Consulting Group