Die Fintech-Szene in Deutschland: Experten-Interview mit Tobias Gillen

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In Deutschland gibt es laut einer Studie der Bank Comdirect, der Beratungsfirma Barkow Consulting und des Investors Main Incubator über 1.000 Fintechs. Neobroker, Neobanken und andere Start-ups haben im Finanzsektor deshalb inzwischen einen hohen Stellenwert.

Tobias Gillen, Geschäftsführer, FINANZENTDECKER® © FINANZENTDECKER®

Wir haben uns deshalb mit Tobias Gillen, Geschäftsführer des Medienunternehmens FINANZENTDECKER, über die aktuelle Fintech-Szene unterhalten.

Herr Gillen, können Sie sich und Ihre Unternehmen zu Beginn kurz vorstellen?

Ich arbeite seit mehr als 15 Jahren in der Medienbranche, zunächst als Journalist, dann zunehmend auf der unternehmerischen Seite. Seit 2015 bin ich Geschäftsführender Gesellschafter der BASIC thinking GmbH, seit 2017 Geschäftsführer des Finanzmagazins FINANZENTDECKER. Dort beschäftigen wir uns intensiv mit den Entwicklungen der deutschen und internationalen Fintechs.

Das klingt so, als ob finanzentdecker.de entstanden ist, weil Sie die Fintech-Szene in Deutschland so fasziniert.

Nicht nur, aber das war ein großer Teil der Gründung, ja. Unser Ziel ist es, unseren Lesern das nötige Wissen mit auf den Weg zu geben, um sich selbst um ihr Geld kümmern zu können. Das Problem bei der Geldanlage ist leider für viele immer noch, dass die Einstiegshürde zu hoch ist. Das liegt vor allem an unserem Schulsystem, in dem Kinder und Jugendliche kaum etwas über Wirtschaft, persönliche Finanzen und Geldanlage lernen. Der Boom der Fintechs – Neobroker, Neobanken und Co. – zeigt, dass es eine große Nachfrage danach gibt, die Einstiegshürden abzusenken und es mehr Menschen möglich zu machen, sich selbst mit Themen wie Aktien und ETFs auseinanderzusetzen. Genau dabei wollen wir mit unserem Magazin helfen.

Welche Start-ups aus dem Fintech-Bereich haben Ihrer Meinung nach die größte Bedeutung?

Da muss man differenzieren zwischen Neobanken, also Anbietern, die ein Girokonto, Debitkarte und Kreditkarte anbieten, und Neobrokern, also Anbietern für Depots, mit denen Kunden in Aktien und ETFs investieren können. Bei den Neobanken ist sicherlich N26 eines der wichtigsten Fintechs. Bei den Neobrokern ist es ganz sicher Trade Republic, die fast im Alleingang den deutschen Markt für Depots verändert haben. Das zeigt auch unser ausführlicher Neobroker Vergleich. Ansonsten finden wir Scalable Capital, Smartbroker und JustTrade spannende Player, wobei Scalable Capital sich bei den Trade Republic-Verfolgern nochmal abhebt.

Menschen in Deutschland gelten in Finanzangelegenheiten als eher vorsichtig und aktienscheu. Neobroker wie Trade Republic und Scalable Capital konnten in den letzten Jahren ihren Kundenstamm trotzdem deutlich vergrößern. Welche Faktoren sind für diese Erfolgsgeschichten verantwortlich?

Wir haben jetzt eine jahrelange Niedrig-, Null- oder sogar Negativzinsphase hinter uns. Dazu kommt aktuell eine erhöhte Inflation und die zunehmende Erkenntnis, dass wir uns alle selbst um unsere Finanzen kümmern sollten und – unter anderem durch Neobanken und Neobroker – das auch selbst können. Zudem sehen wir einen großen Aktienboom bei jüngeren Anlegern, die den Dotcom-Crash von 2000 damals nicht aktiv miterlebt haben oder damals teilweise sogar noch gar nicht auf der Welt waren. Damals haben sich viele Menschen am Aktienmarkt die Finger verbrannt und das Thema dann für immer abgehakt. Das ist bei jüngeren Anlegern nicht so. Dazu kommt noch, dass sich die klassischen Banken in den letzten Jahren weniger weiterentwickelt haben und nicht so ansprechend sind wie die jungen Neobroker, sowohl beim Preismodell als auch bei der Benutzerfreundlichkeit. All diese Faktoren haben zu diesem Boom der Fintechs geführt, der sich jetzt zwar etwas abgeschwächt hat, aber das Interesse an privater Altersvorsorge mit Aktien und ETFs ist nach wie vor da.

Denken Sie, dass die Umsätze und das Kundenwachstum der Neobroker und Neobanken anhalten wird oder ist die Branche inzwischen gesättigt?

Ich denke, dass wir eine spannende Zeit vor uns haben, in der sich herauskristallisieren wird, welche Neobroker und Neobanken langfristig Bestand haben. Wir sehen ja schon erste Verschiebungen im Markt: Gratisbroker wurde von Finanzen.net Zero gekauft, Nuri (vormals Bitwala) ist insolvent, um nur mal zwei Beispiele zu nennen. Der Markt hat großes Wachstumspotenzial, aber nicht jedes Unternehmen wird es eigenständig schaffen. Hier wird es noch einige Übernahmen und Zusammenschlüsse geben.

Können Sie uns einen Ausblick auf die kommende Jahre geben? Mit welchen Entwicklungen und Trends ist in der Fintech-Szene in Deutschland zu rechnen? Denken Sie, dass die Fintechs neben Neobanken und Neobrokern noch weitere Bereiche der traditionellen Finanzwelt „revolutionieren“ werden?

Wie gesagt, denke ich, dass es viele Zusammenschlüsse und Übernahmen geben wird. Und auch andere Branchen sind vor Fintechs nicht sicher. Das sehen wir an Insurtechs wie Getsafe, Getsurance, Friday und Co., die die klassische Versicherungsbranche zunehmend angreifen oder an Neobrokern, die auch den Kryptohandel mit aufnehmen.

Vielen Dank für das interessante Interview und Ihre präzisen Einschätzungen zu unserer Fintech-Szene.

Bild (2): © FINANZENTDECKER®