Rechtliches Gehör im Prozess wegen Berufsunfähigkeit

Mann mit Bauhelm in Fabrikhalle bedient Maschine
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Der BGH stellte im Rahmen eines Berufungsunfähigkeitsversicherungsverfahrens fest, dass das Berufungsgericht mit seiner Entscheidung den Anspruch des Versicherungsnehmers auf rechtliches Gehör im Prozess wegen Berufsunfähigkeit verletzt hat (BGH, Beschluss v. 13.12.2023 – IV ZR 125/23).

Streit um das Vorliegen einer Berufsunfähigkeit

Björn Thorben M. Jöhnke, Rechtsanwalt, Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte in Partnerschaft mbB © Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte in Partnerschaft mbB

Der Versicherungsnehmer unterhielt eine Lebensversicherung mit Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (BUZ). Es wurde vereinbart, dass der Versicherungsnehmer bei einer Berufsunfähigkeit von mindestens 50 Prozent von der Beitragszahlungspflicht befreit wird und der Versicherer eine monatliche Berufsunfähigkeitsrente zahlt.

Der Versicherungsnehmer ist gelernter Anlagenmechaniker und arbeitete seit 2008 als Schweißer. Seine Anstellung wurde Ende April 2015 betriebsbedingt gekündigt. Seit dem 24. Juli 2017 ist er als Facharbeiter in der Anlagenbedienung tätig. Im Februar 2016 machte er Versicherungsleistungen wegen Erkrankungen seiner Augen geltend und behauptet hierzu, zumindest seit dem 1. Januar 2015 bedingungsgemäß berufsunfähig zu sein. Daraufhin lehnte der Versicherer im März 2019 seine Einstandspflicht mangels Nachweises einer bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit ab.

Konkrete Verweisung durch die Versicherung

Darüber hinaus verwies der Versicherer den Versicherungsnehmer hilfsweise auf die seit dem 24. Juli 2017 konkrete ausgeübte Tätigkeit.

Zunächst nahm der Versicherte diese Verweisung hin und klagte nur auf Zahlung der rückständigen Renten bis Juni 2019 sowie Erstattung der in diesem Zeitraum erbrachten Beitragszahlungen. Das zuständige Landgericht wies die Klage erstinstanzlich ab (LG Neubrandenburg, Urt. v. 30.03.2022 – 3 O 668/19).

Mit seiner dagegen gerichteten Berufung machte der Versicherungsnehmer zusätzlich den Anspruch auf Zahlung der rückständigen Rente bis Juli 2022, künftiger Renten, der Erstattung weiterer gezahlter Beiträge sowie die Befreiung von zukünftigen Beitragszahlungen geltend. Diese Berufung des Versicherten wies das Oberlandesgericht jedoch zurück (OLG Rostock, 11.05.2023 – 4 U 48/22). Gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Berufungsgericht wendet sich der Versicherungsnehmer nun mit seiner Beschwerde zum BGH.

Prozess wegen Berufsunfähigkeit

Die Beschwerde war vor dem BGH erfolgreich. Der angefochtene Beschluss war aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Denn nach der Auffassung des BGH habe das Berufungsgericht den schlüssigen Vortrag des Versicherungsnehmers im Prozess wegen Berufsunfähigkeit zum Eintritt des Versicherungsfalls vermisst. Die Mindestvoraussetzungen einer fingierten Berufsunfähigkeit seien dem Vortrag des Versicherten nicht zu entnehmen. Denn dieser habe die konkreten Erkrankungen und Beschwerden mitzuteilen und darzulegen, warum er seine beschriebene Tätigkeit nicht mehr ausführen könne. Es müsse klar werden, wie sich die vom Arzt festgestellte gesundheitliche Beeinträchtigung auf die Fähigkeit des Versicherten auswirke, die im Beruf anfallenden Verrichtungen auszuführen, so das Berufungsgericht.

Hierzu habe der Versicherungsnehmer im Prozess wegen Berufsunfähigkeit für den Sechsmonatszeitraum vor dem 1. Januar 2015 lediglich die Diagnose eines Chalazions (Hagelkorns) vorgetragen. Es sei weder ersichtlich noch konkret vorgetragen, dass er aufgrund von Beschwerden Raubbau treibend gearbeitet habe. Auch für den Sechsmonatszeitraum ab dem 1. Januar 2015 habe der Versicherungsnehmer nicht dargelegt, wegen krankheitsbedingter Beeinträchtigungen bedingungsgemäß berufsunfähig gewesen zu sein. Vielmehr habe er bis zur betriebsbedingten Kündigung gearbeitet und für diesen Zeitraum keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorgetragen.

Gleichermaßen sei die Berufsunfähigkeit nicht schlüssig dargelegt worden, so das Berufungsgericht. Dem klägerischen Vortrag im Prozess wegen Berufsunfähigkeit sei nicht zu entnehmen, dass bis zu seiner betriebsbedingten Kündigung konkrete Beschwerden vorgelegen hätten, die ihn gehindert hätten, seinen Beruf als Schweißer auszuüben. Die vom Versicherungsnehmer aufgeführten Beschwerden, wie etwa eine chronische Bindehaut- und eine Lidrandentzündung, seien erst nach dem Ende seiner beruflichen Tätigkeit aufgetreten und ärztlich festgestellt worden.

Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör

Der BGH stellte jedoch fest, dass diese Entscheidung des Berufungsgerichts den Versicherungsnehmer in entscheidungserheblicher Weise in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör verletze. Denn das Gericht sei aufgrund dieses Anspruchs im Prozess wegen Berufsunfähigkeit dazu verpflichtet gewesen, die Ausführungen des Versicherungsnehmers zur Kenntnis zu nehmen und auch in Erwägung zu ziehen. Es sei zwar bei vom Gericht entgegengenommenen Vorbringen der Parteien grundsätzlich davon auszugehen, dass dies ordnungsgemäß geschehen ist. Nach Ansicht des BGH liegt ein Verstoß gegen die Pflicht zur Berücksichtigung von Vorbringen jedoch vor, wenn im Einzelfall zu erkennen ist, dass erhebliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist. Dies sei etwa der Fall, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Vortrags einer Partei zu einer zentralen Frage in den Entscheidungsgründen nicht eingeht. So liege hier der Fall.

Verstoß gegen die Pflicht zur Berücksichtigung von Vorbringen

Konkret habe die Annahme des Berufungsgerichts, der Versicherungsnehmer habe den Eintritt des Versicherungsfalls im Prozess wegen Berufsunfähigkeit nicht schlüssig dargelegt, das klägerische Vorbringen gehörsverletzend übergangen, so der BGH. Zu Unrecht habe das Berufungsgericht angenommen, dass der Versicherte keine konkreten Beschwerden vorgetragen hat, die ihn an der Ausübung seines Berufs als Schweißer hindern. Denn entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts habe der Versicherungsnehmer die Augenbeschwerden nicht erst für den Zeitraum nach dem Ende seiner beruflichen Tätigkeit behauptet. Vielmehr habe er bereits in der Klagebegründung vorgetragen und unter Beweis gestellt, dass die beim Schweißvorgang anfallenden Lichtemissionen – insbesondere die ultraviolette Strahlung – Ursache für die bei ihm diagnostizierten Augenbeschwerden sowie Auslöser einer reproduzierbaren akuten Verschlechterung des Krankheitsbildes seien. Mit diesem Vorbringen, das sich auch in den vorgelegten ärztlichen Unterlagen wiederfindet, habe sich das Berufungsgericht indes nicht auseinandergesetzt.

Entscheidungserheblich der Gehörsverletzung

Darüber hinaus sei die Gehörsverletzung des Berufungsgerichts entscheidungserheblich. Der BGH führte hierzu aus, dass es nicht auszuschließen sei, dass das Berufungsgericht unter Berücksichtigung des klägerischen Vorbringens zur Annahme einer bedingungsgemäßen Berufungsunfähigkeit gelangt wäre.

Fazit und Hinweise

Jede Partei im Prozess hat einen Anspruch auf rechtliches Gehör. Aus diesem Grund ist das Gericht dazu verpflichtet, die Ausführungen jeder Partei zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gericht verstößt jedenfalls gegen seine Pflicht zur Berücksichtigung von Vorbringen, wenn im Einzelfall zu erkennen ist, dass erhebliches Vorbringen einer Partei entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist. In diesem Fall war das Urteil also entsprechend aufzuheben und unter Berücksichtigung aller Vorbringen neu zu entscheiden.

Diese Entscheidung zeigt deutlich auf, dass auch in Versicherungsprozessen durchaus Fehler geschehen können. Der Versicherungsnehmer musste vorliegend bedauerlicherweise erst zum BGH ziehen, um zumindest eine Entscheidung darüber zu erhalten, dass sein Gehörsrecht verletzt. Nun hat sich das OLG Rostock erneut mit der Berufsunfähigkeitsangelegenheit zu beschäftigen und muss über die Ansprüche des Versicherten entscheiden.

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