BKK Gesundheitsreport 2022: Pflegefall Pflege?

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Jeder muss sich früher oder später im Leben mit dem Thema Pflege auseinandersetzen. Sei es, dass man selbst im Krankenhaus behandelt oder in einem Pflegeheim versorgt wird oder sich um einen pflegebedürftigen Angehörigen kümmert. Pflege ist ein systemrelevanter Bereich in der Gesundheitsversorgung und somit auch der Schwerpunkt des diesjährigen BKK Gesundheitsreport 2022: Pflegefall Pflege?

Der BKK Gesundheitsreport 2022 beleuchtet die Situation in der Alten-, Kranken- und Gesundheitspflege. Trotz gesetzgeberischer Aktivitäten und spezifischer Maßnahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) wird die Situation in der Pflege weiterhin als kritisch bewertet.

„Wenn man sich heute die Situation in der Pflege anschaut, dann erinnert sie mich an das Familienbild der 50iger Jahre. Bei aller Vernachlässigung von Details zeigt sich darin ein Spiegel unserer Gesundheitsversorgung. Der Vater als Haushaltungsvorstand – in dem Fall der Mediziner – sagt an, was richtig ist in Sachen Gesundheit. Die Mutter, also die Pflege, kümmert sich um die Kinder, hat vermeintlich diffuse Aufgaben, aber sorgt dafür, dass der Laden läuft. Und sie muss ihren Mann fragen, ob sie arbeiten gehen und ein eigenes Konto eröffnen darf, sprich, sie wird in jedem Schritt gesteuert und darf nicht eigenständig agieren. Und die Kinder, also die Patienten, sie haben auch kaum Mitspracherecht“, so Dr. Bernadette Klapper, Bundesgeschäftsführerin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe.

Aus Sicht der Gesellschaft wird die Arbeit von Pflegenden zu wenig wertgeschätzt, es fehlt vor allem die notwendige Akzeptanz innerhalb der Kliniken und Heime. Oft sind die Arbeitsbedingungen schwierig, immer häufiger fallen Überstunden an und Dienstpläne ändern sich kurzfristig, und dies alles bei niedrigem Gehalt.

Überlastete Pflegekräfte

Hinzu kommt, dass die Kranken- und Altenpflege durch körperlich und psychisch belastende Arbeit geprägt ist. Beschäftigte in der Altenpflege (33,2 AU Tage je Beschäftigte) und Krankenpflege (25,7 AU-Tage je Beschäftigte) weisen deutlich höhere Fehlzeiten auf als der Durchschnitt aller Beschäftigten (18,2 AU-Tage je Beschäftigten).

Diese Differenz ist in den letzten beiden Corona-Pandemiejahren sogar noch größer geworden (Fehlzeiten in 2019: 22,7 AU-Tage je Beschäftigten bei den Gesundheits- und Krankenpflegekräften, 29,0 AU-Tage je Beschäftigten bei den Altenpflegekräften, beziehungsweise 18,4 AU-Tage je Beschäftigten bei allen Beschäftigtengruppen). Vor allem weisen Pflegekräfte überdurchschnittlich viele Fehltage aufgrund von Muskel-Skelett-Erkrankungen (Altenpflege 9,5 AU Tage; Krankenpfleger 6,5 AU-Tage je Beschäftigte) und psychischen Störungen (Altenpflege 7,3 AU-Tage; Krankenpfleger 5,5 AU-Tage) auf.

Der große Block sei die körperlich schwere Arbeit, die zu Problemen wie Rückenbeschwerden führen könne. Und die unregelmäßigen Arbeitszeiten von Nacht- und Schichtarbeit können von den Störungen des biologischen Rhythmus über Konzentrations- und Schlafstörungen bis hin zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen, erklärt Prof. Dr. Holger Pfaff, Direktor des Instituts für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft der Universität zu Köln.

Kritisch für die Beschäftigungssituation und auch den Pflegekräftemangel sei, so Prof. Dr. Pfaff weiter, dass rund zwei Drittel der Pflegekräfte sagen: so, wie sie jetzt arbeiten müssen, können sie nicht bis zu normalen Renteneintrittsalter arbeiten. Hier gebe es also ein Potenzial für Frühberentung. Und das sei kritisch in einer Zeit des Personalmangels.

Ergebnisse der BKK Beschäftigtenumfrage 2022

Unzufriedenheit und ein erhöhter Krankenstand breiten sich aus. Ein Teufelskreis, denn wenn immer häufiger die Kolleginnen und Kollegen ausfallen, nimmt die Arbeitsverdichtung des Einzelnen zu. In einer repräsentativen Umfrage von 6.000 Beschäftigten im Rahmen des BKK Gesundheitsreports 2022 gaben mehr als 40 Prozent der Altenpflegekräfte (44,2 Prozent) genauso wie die Gesundheits- und Krankenpflegekräfte (40,4 Prozent) an, dass sie sich aktuell den Anforderungen ihrer Arbeit nur teilweise oder gar nicht gewachsen sehen. Dieser Anteil ist fast doppelt so hoch wie bei den sonstigen Berufen mit 24,6 Prozent.

Da ist es wenig verwunderlich, dass beispielsweise jeder vierte Beschäftigte in der Gesundheits- und Krankenpflege darüber nachdenkt in den nächsten zwei Jahren den Arbeitgeber zu wechseln. Mehr als jeder Fünfte denkt sogar darüber nach seinen Berufen ganz aufzugeben.

Ein weiteres Problem ist: Bei jeder dritten Altenpflegekraft (34,8 Prozent) und deutlich über einen Viertel (29,8 Prozent) aller Gesundheits- und Krankenpflegekräfte ist es fraglich, ob sie überhaupt bis zur Rente ihren Beruf ausüben beziehungsweise generell arbeiten können.

Ursächlich dafür ist nach Aussagen der Befragten weniger der Pflegeberuf an sich, sondern vor allem die Gestaltung der Arbeitsbedingungen, die den Pflegenden heute zu schaffen machen. Die überwiegende Mehrheit aller Befragten sagt zwar, dass ihre Aufgaben eine anspruchsvolle Tätigkeit und ein zukunftssicherer Beruf sind (70,5 – 90,7 Prozent).

Andererseits ist die Mehrheit der Meinung, dass sowohl die Bezahlung in der Pflege (66,1 Prozent) nicht angemessen ist, sondern auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie (51,5 Prozent) in diesem Berufsfeld nicht oder nur schlecht gegeben ist.

Insgesamt liefern sowohl die Befragungsergebnisse als auch Beschäftigungsstatistiken des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) keinen Beleg, die für das Phänomen „Pflexit“, einem Massenexodus der Pflegekräfte aus dem Gesundheitssystem, sprechen.

Ein Berufswechsel findet in der Pflege in etwa genauso häufig wie in anderen Berufen statt. Allerdings würde auch ein großer Teil (43,5 Prozent) unter den Befragten den Pflegeberuf als Ausbildungsberuf nicht weiterempfehlen und ist zudem der Meinung, dass der Pflegeberuf keine hohe gesellschaftliche Anerkennung genießt (43,7 Prozent).

Mehr Verantwortung durch bessere Ausbildung in der Pflege

Eine wesentliche Maßnahme, die Verhältnisse in der Pflege zu verbessern, sei das Berufsbild von professionell Pflegenden aufzuwerten, fordert Dr. Bernadette Klapper: Grundsätzlich seien eine gute Bildung und gute Qualifizierung auf allen Ebenen erforderlich. Endlich gebe es eine generalistische Ausbildung.

Wichtig sei, so Dr. Klapper, die Kinderkrankheiten in der Umsetzung zu beheben und konsequent zu nutzen, was uns das Pflegeberufegesetz ermöglicht, nämlich auch den Berufszugang über primär qualifizierende Hochschulstudiengänge, sprich den Bachelor in Pflege, als Grundlage für Spezialisierungen auf Masterebene verstärkt anzubieten und zu sichern.

Franz Knieps, Vorstandsvorsitzender des BKK Dachverbands, geht noch einen Schritt weiter. Er sieht ein grundsätzliches Umdenken bei der Alten- und Krankenpflege von Nöten. Seine Forderung: Weniger stationäre Aufenthalte hin zu mehr ambulanter Pflege:

Wir müssen zum einen feststellen, dass der größte ambulante Pflegedienst die Familie ist! Aber auch da ändern sich Strukturen.

Mehr ambulante Pflege!

Es gebe heute in den Ballungsgebieten mehr als 50 Prozent Ein-Personen-Haushalte, so Knieps weiter. Pflege im Familienverbund werde da schwieriger. Deshalb müsse das System viel durchlässiger werden. Die heutigen Pflegegrade müssen viel flexibler nach dem individuellen Bedarf gestaltet werden. Denn die Hilfsbereitschaft in der Familie, in der Nachbarschaft, im Haus, sei viel größer als wir glauben.

Eines steht fest: Durch den demografischen Wandel wird der Bedarf an Pflegeleistungen in den nächsten Jahren deutlich steigen. Längst ist die Pflege älterer und kranker Menschen nicht bloß ein gesundheitspolitischer, sondern in gesamtgesellschaftlicher Auftrag.

„Ich sehe sogar große Möglichkeiten etwas zu reformieren! Wenn wir uns mit anderen Ländern vergleichen, dann haben wir weder zu wenig Ärzte noch zu wenig Pflegekräfte auf der Ebene Land. Aber wir verteilen diese personellen Ressourcen falsch“, befindet Franz Knieps.

Es gebe viele Krankenhäuser, es werde zu viel stationär erledigt, was auch ambulant erledigt werden könnte. Wenn diese Strukturen bereinigt würden, dann wäre, so Knieps, ausreichend Arbeit und ausreichend gute Arbeit für alle vorhanden.

Weitere Analysen und Kennzahlen zur Arbeitsunfähigkeit, zur ambulanten und stationären Versorgung sowie zu den Arzneimittelverordnungen und zur BKK-Umfrage sind im neuen BKK Gesundheitsreport 2022 zu finden.