Das ehemalige DAX-Unternehmen Wirecard ist Hauptfigur eines spektakulären Bilanzskandals. „Spektakulär“ ist das Vokabular der großen Wirtschaftsmedien des Landes und vieler anderer, wenn es um die Betrugsvorwürfe, die Flucht der Vorstandsmitglieder und auch die Milliardenverluste geht, die die Aktionäre betrauern. Schon einige Zeit, bevor ganz offen über Bilanzfälschung im großen Stil berichtet wurde, waren es insbesondere das Handelsblatt und die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die lautstark und wiederholt Zweifel am Geschäftsgebaren äußerten.
Kann ein Anlageberater diese Medienberichte beiseite wischen, wenn er seinen Kunden zur Investition in Zertifikate auf Aktien des Unternehmens rät? Nein, kann er nicht, verkündete am 3. Mai 2022 das Landgericht Chemnitz in einem noch nicht rechtskräftigen Urteil (Az. 6 O 598/21). Es sieht eine fehlerhafte Anlageberatung, weil sich der Anlageberater der Erzgebirgssparkasse auf die Einschätzung der interessengesteuerten Analysten der Sparkassen-Finanzgruppe verließ und den Kauf empfahl.
Ehepaar verlor durch die Investition 43.303,08 Euro
Am 25. Juni 2020 meldete die Wirecard AG wegen drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung Insolvenz an, nachdem sie drei Tage zuvor per Ad-hoc-Meldung mitgeteilt hatte, dass 1,9 Milliarden Euro ihres Vermögens „mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht existieren“. Wenige Monate zuvor – März 2019 bis Januar 2020 – erwarben die Kläger, ein Ehepaar aus dem Erzgebirge, auf Empfehlung eines für die Erzgebirgssparkasse tätigen Anlageberaters 43 Deep-Express-Zertifikate der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) mit Bezug auf Aktien der Wirecard AG.
Die Kläger verkauften die Zertifikate entsprechend der vertraglichen Vereinbarungen im Juli 2020 für 409,72 Euro abzüglich Nebenkosten von 150,00 Euro. Insgesamt ist den Klägern somit ein Schaden in Höhe von insgesamt 43.303,08 Euro entstanden – eine Summe, zu deren Zahlung im Endurteil vom 3.
Mai 2022 die Erzgebirgssparkasse (nebst Zinsen und Gerichtskosten) nun verurteilt wurde.
Wegweisendes Urteil gegen Sparkasse
Das aktuelle Urteil sei nach hiesiger Kenntnis das erste seiner Art, so Dr. Thomas Meschede, Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht der mzs Rechtsanwälte, die das Urteil erstritten. Zur Aufgabe des Anlageberaters der Erzgebirgssparkasse habe es gehört – so das Gericht in der Urteilsbegründung – über die seit Ende Januar 2019 einsetzende gehäufte Berichterstattung im Handelsblatt und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über Manipulationsvorwürfe gegen Wirecard zu informieren.
Diese Berichte beschrieben erhebliche Umstände, die für die Anlageentscheidung der Kläger von Bedeutung waren, da sie das für Wirecard wichtige Asiengeschäft betrafen und seit Februar 2019 auch die Strafverfolgungsorgane in Singapur aktiv geworden sind. Stattdessen habe der Anlageberater den Klägern lediglich Bewertungen dieser Presseberichte seitens der NordLB und LBBW zur Verfügung gestellt und dies auch erst bei eine der letzten Zeichnungstermine.
Dies sei unzureichend gewesen, so das Landgericht. Zudem sei eine dieser Bewertungen auch noch fehlerhaft gewesen. Hinzu komme, so das Gericht, dass sich die Sparkasse bei der Beratung der
Kläger nicht auf die Einschätzung der Analysten hätte verlassen dürfen. Der Sparkasse sei bekannt gewesen, dass Emittentin der Wirecard-Zertifikate die Landesbank Baden-Württemberg war und somit die Einschätzung ihrer Analysten interessengesteuert ist. Auch die NordLB gehört zur Sparkassen-Finanzgruppe, so das Gericht.
Schließlich hätte die Sparkasse auch berücksichtigen müssen, dass man den Beurteilungen der Analysten seit der Finanzkrise im Jahr 2008 wegen der dabei zutage getretenen groben Fehleinschätzungen mit Skepsis gegenübertreten sollte. Dies auch, da sich seither Bestrebungen, Geschäfts- und Investmentbanken zu trennen (Trennbankensystem), nicht durchgesetzt haben und die Analysten somit auch zur Emissionsunterstützung der Bank tätig werden. Das Gericht kommt daher zu diesem Ergebnis:
„lndem die Sparkasse die Kläger nicht neutral über die Presseberichterstattung informierte, durch die verspätete - Weitergabe der Analysteneinschätzungen die Presseberichterstattung verharmloste, verletzte sie ihre Pflichten zur sachgerechten Aufklärung über die für die Anlageentscheidung wesentlichen Umstände.“
Ein Präzedenzurteil
"Dem Vorwurf der fehlerhaften Anlageberatung werden sich nach unserer Einschätzung zahlreiche Banken und Sparkassen stellen müssen, die ihren Kunden trotz der Presserecherchen und -berichte in 2019 und 2020 Finanzprodukte mit Bezug zur Wirecard AG empfahlen“, sagt Dr. Meschede, Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht der mzs Rechtsanwälte, die das Urteil erstritten. Dieses Klageverfahren vor dem Landgericht Chemnitz könne man demnach als eine Art Musterverfahren unter dem Stichwort „Schadensersatz wegen unterlassener Aufklärung über die negative Presseberichterstattung zu Wirecard“
betrachten.
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