Es mag vorkommen, dass IT graue Haare wachsen lässt. Dieses Phänomen soll beispielsweise schon mehrfach bei der Einführung komplexer ERP-Systeme beobachtet worden sein. Hier aber geht es genau andersherum: Graue Haare kümmern sich um die IT. Und das kann beide Seiten glücklich machen.
Ein Beitrag von Nadine Riederer, CEO von Avision
Für Unternehmen sind IT-Ruheständler ein potenzieller Pool erfahrener, mit Prozessen, Projekten und Personen vertrauter Experten. Sie wissen um die geschriebenen und, fast noch wichtiger, ungeschriebenen Strukturen und Gesetze im Binnenverhältnis. Man kennt sich und weiß sich genau einzuschätzen. Ihre Karriere haben sie bereits gemacht und mittlerweile ganz andere Interessen, als sich Beinfreiheit auf der Erfolgsleiter zu verschaffen.
Für IT-Veteranen zählt vielmehr die Freude an der Sache, die Beschäftigung mit kniffligen Problemen und das Erfolgserlebnis bei deren Lösung. Produktive Arbeit betrachten sie als Wert an sich. Es ist zwar schön – und manchmal notwendig –, auch eine monetäre Vergütung dafür zu bekommen. Aber gerade nach dem altersbedingten Abschied vom Arbeitsplatz wird vielen Pensionären klar, dass eine professionelle Beschäftigung nicht nur Lohnarbeit ist, sondern auch ein wichtiger Erfahrungsraum, Kontaktquelle und Zufriedenheitsfaktor.
Statt der sogenannten Work-Life-Balance hinterherzuhecheln, die fälschlicherweise suggeriert, Arbeit und Leben seien Antagonismen und müssten gegeneinander austariert werden, versuchen sie vielmehr Arbeit und Freizeit in ein lebenswertes Verhältnis zu bringen. Damit sind sie, ganz nebenbei, sinnstiftendes praktisches Vorbild für diejenigen, die voll im Berufsleben stehen. Meist wird diese Erfahrung erst nach dem Break gemacht, wenn der ursprünglich willkommene Müßiggang zur quälenden Langeweile wird. Es bewahrheitet sich halt immer wieder: „You don‘t know what you got, until it's gone!“.
In körperlich so anstrengenden Berufen wie Bauarbeiter, Landwirt oder Dachdecker gibt es allerdings eine Art natürliche Altersgrenze. Mit 68 Jahren noch Solarpanels auf Häuser klopfen zu wollen, ist keine vernünftige Option. Anders sieht es bei Berufen aus, in denen vor allem mit dem Kopf gearbeitet wird, was bei der IT ja in der Regel zutreffen sollte. IT-Fachleute sind in diesem Sinne ähnlich privilegiert wie Autoren, Maler, Musiker und vielleicht auch Politiker.
Nun kann man einwerfen, dass gerade in der IT die Innovationsgeschwindigkeit besonders hoch (siehe Moores Gesetz), die Halbwertzeit von Expertise also besonders gering ist. Wer aber, wenn nicht ein gestandener IT-Profi, sollte richtig damit umgehen können? Sind sie nicht alle Experten darin, ständig mit der nächsten bahnbrechenden Innovation, dem neuesten Hype, der jüngsten disruptiven Technologie klar zu kommen, und etwas Gescheites daraus zu machen? Das nutzt sich nicht ab. Im Gegenteil – es prägt!
Das macht die grauhaarigen Programmierer, Administratoren oder Datenanalytiker so wertvoll. Sie sind sach- und ergebnisorientiert, verfügen häufig über rar gewordenes Insider-Wissen zu Legacy-Software und -Systemen, besitzen eine hohe Stressresistenz, können über Betriebsblindheit oft nur noch schmunzeln, haben Zeit und Muße, den Nachwuchs an die Hand zu nehmen und einen Erfahrungsschatz im Rücken, der so manchen Irrweg erkennt, bevor er zur Sackgasse wird.
Dazu besitzen sie die Unabhängigkeit, dies falls nötig offen zu sagen und dem unternehmensinternen Mainstream aus guten Gründen Kontra zu geben. Einen besseren Spiegel als so ein konstruktives Korrektiv ohne Eigeninteressen kann man sich gar nicht wünschen, auch wenn es manchmal vielleicht weh tut. Damit ist ihr Wert für die Projektarbeit ebenso hoch wie ihr positiver Einfluss auf die Unternehmenskultur. Was für ein idealtypisches HR-Profil!
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