Infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine versuchen westliche Importeure von Energie, Getreide und Metallen aus Russland die Auswirkungen des Kriegs auf ihr Geschäft abzuschätzen. Wenig überraschend haben die Rohstoffpreise bereits reagiert und neue Allzeithochs erreicht, während die Aktienmärkte mit Beginn des Krieges in der Breite deutlich nachgegeben haben. Europa wird sich auf einen weiteren Inflationsschock – und vor allem mehr menschliches Leid – einstellen müssen.
Ein Beitrag von Kerstin Hottner, Portfoliomanagerin, und Michel Salden, Head of Commodities, bei Vontobel
Bereits vor der militärischen Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine waren die Lagerbestände der meisten Rohstoffe auf sehr geringen Niveaus. Dementsprechend war auch eine Knappheitsprämie eingepreist. Dieser Aufschlag hat mit den geopolitschen Risiken durch Russlands Invasion und der täglichen Verschärfung des Krieges zugenommen. Der breit angelegte Bloomberg Commodity Index ist im Jahresverlauf per 21. März 2022 um 26,5 Prozent gestiegen, während Rohöl um 50 Prozent, Aluminium um knapp 30 Prozent und Weizen um fast 45 Prozent zugelegt haben.
Alle Rohstoffsektoren erwarten enorme Angebotsstörungen, was mit andauerndem Kriegsverlauf zu weiteren Inflationsschocks in Europa führen dürfte. Auf diese Art von Preisanstieg kann man sich jedoch nur schwer vorbereiten. Andererseits sollten Unterbrüche beim Angebot, steigende Preise und geringere Rohstoffbestände letztendlich zu einem Nachfragerückgang führen. Den Zentralbanken sind mit Blick auf diese Entwicklung die Hände gebunden, da eine Erhöhung der Leitzinsen die wirtschaftliche Erholung gefährden würde. Die hohe Inflation scheint somit vorerst anzuhalten.
Kein Gasstrom durch NorthStream 2
NorthStream 2, die viel kritisierte Gaspipeline zwischen Deutschland und Russland, welche die Marktmacht von Europas größtem Lieferanten weiter gestärkt hätte, ist vom Tisch. Deutschland hat das Genehmigungsverfahren nach jahrelangem Drängen westlicher Verbündeter gestoppt. Kurzfristig ist das unproblematisch, da Europa für den laufenden Winter über ausreichend Erdgas verfügt. Die Kapazitäten dürften jedoch nicht reichen, um die Gastanks Europas im Jahresverlauf für den nächsten Winter aufzufüllen. Die Füllstände liegen bereits 15 Prozent unter ihrem Fünfjahresdurchschnitt.
Deutschland bemüht sich nun um mehr Flüssiggas aus Katar, aber das wird den leeren Speichern vor dem nächsten Winter auch keine Abhilfe schaffen. Denn Deutschland muss zuerst neue Terminals bauen und Katar hat einen Großteil des Gases in langfristigen Verträgen mit anderen Ländern gebunden. So dürften die Gaspreise weiter hoch und volatil bleiben, womit auch die Strompreise in Europa auf hohem Niveau bleiben werden. Unter diesen Umständen beschließen immer mehr Regierungen in Europa die Abschaltung der verbliebenen Atomkraftwerke aufzuschieben, und auch der Fahrplan des Kohleausstiegs wird plötzlich in Frage gestellt. Ähnliches wird auch in Osteuropa und Italien diskutiert, wobei nicht vergessen werden darf, dass einige dieser Volkswirtschaften von russischer Kohle abhängig sind.
Auch russische Erdöllieferungen stehen im Fokus. Das Land, das nach Saudi-Arabien den zweitgrößten Anteil am Weltmarkt hat, schickt zwei Drittel seiner Ölexporte, etwa 3,5 Millionen Barrel pro Tag, in den Westen. Mit Ausnahme des Zweiten Weltkriegs hat Russland Europa bislang immer beliefert und möchte auch in Krisen als zuverlässiger Lieferant gelten. Tatsächlich sind Energielieferungen bisher von Sanktionen der Europäischen Union ausgenommen.
Doch Russland als Erzeuger (und Europa als Verbraucher) drohen Probleme an anderer Stelle. Immer mehr Kreditgeber aus Europa, den USA und auch China begrenzen die Mittel zum Kauf russischer Rohstoffe, um Rechts- und Reputationsrisiken zu vermeiden und die Folgen eines möglichen Zahlungsausfalls russischer Handelspartner abzuschwächen. Auch der Ausschluss russischer Banken vom internationalen Zahlungssystem SWIFT erschwert den Zahlungsverkehr und somit auch den Handel mit physischen Rohstoffen.
Trotz des derzeitigen Abschlags von 20 US-Dollar, den Russland derzeit pro Barrel Rohöl anbietet, wollen oder vielmehr können westliche Konsumenten derzeit nicht handeln. Aktuell spiegelt sich diese Situation noch nicht in den Handelszahlen für russisches Öl wieder, da die Lieferungen die aktuell stattfinden noch vor Kriegsbeginn vereinbart wurden. Aber ab April sollten die Ölexporte auf dem Schiffsweg nach Europa deutlich einbrechen. Somit könnten bald die Bestände in Europa rasant um zwei bis drei Millionen Barrel pro Tag fallen.
Auswege aus der Erdölknappheit
Russland ist lose mit der Organisation erdölexportierender Länder (Opec) verbunden, die sich selten von geopolitischen Erwägungen leiten lässt. Die Organisation bestätigte Anfang März, im Einklang mit ihrem Plan der allmählichen Steigerung der monatlichen Fördermengen, erwartungsgemäß die Produktionsausweitung auf 400.000 Barrel pro Tag im April. Gleichzeitig bemüht sich der Westen um eine Einigung mit dem Iran in Bezug auf das Atomprogramm des Landes.
Bei erfolgreichen Verhandlungen könnte der Iran sein Öl wieder weltweit verkaufen, und die Märkte rechnen zunehmend mit einer solchen Vereinbarung. Doch auch der Iran könnte in den ersten drei bis sechs Monaten maximal eine Million Barrel Rohöl pro Tag zusätzlich liefern und den möglichen Wegfall russischer Lieferung nicht ausgleichen. Zum Vergleich: Selbst die Ankündigung der USA, weitere 60 Millionen Barrel Rohöl ihrer strategischen Reserve freizugeben, konnte die Energiemärkte nicht beruhigen. Auch könnte ein Atomabkommen mit dem Iran für neue geopolitsche Konflikte im Mittleren Osten sorgen.
Saudi Arabien und Israel haben bereits gedroht hier entgegenzuwirken. Sie forderten, einem Atomdeal nur zuzustimmen, wenn die Sanktionen gegen Russland keinen Effekt auf die russischen Handelsbeziehung hätten. Angesichts des anhaltenden Bestandsabbaus sind die Rollrenditen für Rohöl auf ein Rekordniveau gestiegen und Käufer bezahlen eine wesentliche Prämie für Sofortlieferungen des Rohstoffs. Das Rollen von Terminkontrakten, also der Verkauf von Kontrakten kurz vor der Fälligkeit und der gleichzeitige Kauf von Kontrakten mit längerer Laufzeit, sind das täglich Brot von Terminhändlern, und der Gewinn aus diesen Trades ist die Rollrendite. Aufgrund des unaufhaltsamen Rückgangs der Öllager könnten kurz laufende Terminkontrakte bis zu 150 US-Dollar pro Barrel erreichen, was zu einer noch höheren Risikoprämie führt.
Knappe Metalle: Kein Bleifuss mehr bei der Autoproduktion
Weniger präsent, jedoch von erheblicher Bedeutung, sind die Auswirkungen des Krieges auf Industriemetalle. Russland beliefert als bedeutender Produzent mit rund 40 Prozent der weltweiten Palladiumproduktion, 6 Prozent bei Aluminium, 7 Prozent bei Nickel (allerdings 12 Prozent in Batterie-relevantem Nickel, sogenannten Class-1 Nickel) und 10 Prozent bei Platin einen Großteil der deutschen Autoindustrie. Die Autohersteller waren nach der Pandemie gerade erst dabei, ihre Produktion wieder hochzufahren, doch auf russische Metalllieferungen scheint nun aufgrund logistischer Probleme sowie Finanzierungsschwierigkeiten kein Verlass.
Einige Lieferanten weigern sich zudem, Metalle aus Russland zu transportieren. Gleichzeitig sind europäische Produzenten von steigenden Erdgaspreisen und Stromkosten betroffen, da der Schmelzprozess sehr energieintensiv ist. Viele europäische Aluminium- und Zinkhütten haben bereits Konsequenzen gezogen und ihren Betrieb eingestellt, da sie ihre Kosten kaum noch decken können. Angesichts der hohen, volatilen europäischen Erdgaspreise (niederländisches TTF-Erdgas +50 Prozent seit Anfang des Jahres) ist eine Verbesserung der Situation nicht in Sicht. Dabei sind die Metallbestände in Europa bereits jetzt schon beinahe erschöpft.
Getreideaussaat in der Ukraine höchst fraglich
Die Schwarzerdenböden in der Ukraine und Teilen Russlands machen beide Länder zur Kornkammer der Welt. Gemeinsam sind sie für fast ein Drittel aller weltweiten Weizenexporte verantwortlich, wobei allein auf die Ukraine 15 Prozent aller weltweiten Mais- und Rapslieferungen entfallen. Die weltweiten Agrarbestände sind derweil aufgrund von Ernteproblemen im dürregeplagten Lateinamerika bereits sehr niedrig. Die Mais- und Weizenaussaat in der Ukraine sollte eigentlich in den nächsten zwei bis vier Wochen beginnen, was jedoch angesichts steigender Dieselpreise und der zerstörten Infrastruktur eher unwahrscheinlich erscheint.
Europa wird vielleicht mit der zunehmenden Lebensmittelinflation zurechtkommen – im Gegensatz zu Ägypten und anderen weizenimportierenden Ländern Afrikas. Erschwerend kommt hinzu, dass die Getreideproduktion auch in anderen Teilen der Welt aufgrund der enormen Düngerverteuerung im Jahr 2021 abnehmen könnte. Denn unglücklicherweise gehören die Ukraine und Russland auch zu den größten Exporteuren von Düngemitteln. Rein rational betrachtet empfehlen wir zur Minderung von Inflations- und geopolitischen Risiken ein Engagement in Rohstoffen, einer Anlageklasse, die in diesem Jahr bislang 26,5 Prozent zugelegt hat. Aus menschlicher Sicht lässt uns die Tragödie vor unserer Haustüre fassungslos zurück.