Die qualifizierte Absicherung der eigenen Arbeitskraft ist gleichermaßen für Arbeitnehmer, Beamte, Freiberufler und Selbstständige ein wichtiger Beitrag zur persönlichen Existenzsicherung. Die Covid-19-Pandemie hat in der deutschen Gesellschaft viele Narben hinterlassen.
Über 3,7 Millionen Infizierte wurden bis Juli 2021 in der Statistik des Robert Koch-Instituts erfasst und ungefähr 90.000 Todesfälle waren zu beklagen. Patienten mit einem schweren Krankheitsverlauf leiden in vielen Fällen länger an neurologischen Ausfällen, zum Beispiel einem Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns, an Lähmungserscheinungen, an einem Fatigue-Syndrom oder auch an irreversiblen Organschäden, die eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit begründen können.
Allerdings dürfen auch Kollateralschäden dieser Pandemie nicht übersehen werden. Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit, Betriebsschließungen, Existenzängste, aber auch Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren mündeten bei vielen Menschen in eine schwere Depression oder Angstzustände ein.
Für das dritte Quartal 2021 erwarten viele Lebensversicherer einen Anstieg der BU-Leistungsanträge und bei einigen Gesellschaften spricht man bereits von der Corona-BU-Welle. Grund genug, um sich mit dem Thema BU-Versicherungsfall im Detail zu beschäftigen.
Alexander Schrehardt von AssekuranZoom sprach mit Michael Strencioch, seit 2006 Leiter im Bereich der Regulierung von biometrischen Risiken wie Berufsunfähigkeit und nach 36 Jahren Betriebszugehörigkeit ein Urgestein der Bayerischen, über die Stunde der Wahrheit im Versicherungsgeschäft.
Herr Strencioch, Ihr Kunde hatte in der Vergangenheit seine Beiträge regelmäßig bezahlt und erwartet eine schnelle, professionelle Bearbeitung seines Leistungsantrags. Wie ist das Prozedere in Ihrer Abteilung, wenn ein Versicherungsfall durch den Kunden oder den Vermittler angezeigt wird?
In Abhängigkeit von einer telefonischen oder schriftlichen Meldung wird der Versicherungsfall am gleichen oder spätestens am nächsten Werktag in unserem Leistungsprüfungstool angelegt und ein Selbstauskunftsformular, das auf die berufliche Tätigkeit der versicherten Person abgestellt ist, versendet.
Auf Wunsch des Versicherten bieten wir hier auch einen Vor-Ort-Service mit einem Dienstleister an, der den Kunden beim Ausfüllen entsprechend unterstützt.
Wer steht dem Kunden als Ansprechpartner bei Rückfragen zur Verfügung? Muss der Kunde bei jedem Anruf dem Mitarbeiter eines Callcenters seine Geschichte neu erzählen?
Nein, bereits bei der Anlage des Versicherungsfalls in unserer internen Software wird dem Kunden beziehungsweise dem Vorgang ein Leistungsregulierer als fester Ansprechpartner zugeordnet.
Dieser Kontakt wird namentlich auf jeder Korrespondenz mit der telefonischen Durchwahlnummer benannt. Ein Anruf beim Callcenter und ein Gespräch mit dem dortigen Mitarbeitenden, der diesen Vorgang nicht kennt, verunsichert den Kunden nur unnötig. Insofern verzichten wir in unserer Leistungsabteilung sehr gerne auf Irritationen dieser Art.
Kunden sind im Versicherungsfall oft mit einer akuten Erkrankung oder Unfallfolgen und somit den medizinischen Behandlungen belastet. Ein 30-seitiger oder noch längerer Leistungsantrag und der Abruf von einzureichenden Unterlagen nach dem Verfahren einer Salamitaktik durch den Versicherer steigert die Belastung in dieser für Kunden an sich schon schwierigen Situation. Welche Unterstützung können Sie/Ihr Leistungsregulierer bieten?
Unsere Selbstauskunft wird so kurz gehalten wie möglich; wir arbeiten auch für die Zukunft an einer individuellen, einzelfallbezogenen und personalisierten Selbstauskunft. Natürlich benötigen wir für die qualifizierte Bearbeitung eines Leistungsantrags aussagekräftige Unterlagen.
Nachdem die Prüfung unserer Leistungspflicht auf den zuletzt von der versicherten Person ausgeübten Beruf abstellt, sind genaue Angaben zu den beruflichen Aufgaben und Tätigkeitsmerkmalen unerlässlich. Damit meine ich unter anderem Arbeitszeiten, eventuell besondere Belastungen (Arbeitsbedingungen, körperliche Anforderungen, Expositionen, Unfallgefahr, Lärm et cetera) und die Stellung im Unternehmen.
Bereits auf der ersten Seite unseres Fragebogens finden Betroffene ein Beispiel, wie sie ihre berufliche Tätigkeit auch für uns als Außenstehende nachvollziehbar beschreiben können. Natürlich benötigen wir stets möglichst vollständige, aussagekräftige medizinische Unterlagen.
Welche medizinischen Unterlagen sollten den Fragebogen sinnvollerweise ergänzen?
Wir erhalten immer wieder Bescheinigungen von Hausärzten, die dem Kunden beispielsweise eine Depression bestätigen. Selbstverständlich stellen wir diese Diagnose nicht infrage, aber ein Zweizeiler des Hausarztes mit der lapidaren Diagnose „Depression“ ist für die Leistungsprüfung nun einmal nicht ausreichend.
Handelt es sich um eine leichte, eine mittelgradige oder eine schwere Depression? Wurde eine chronische Depression oder eine rezidivierende depressive Störung diagnostiziert? Seit wann ist der Kunde in (fach-)ärztlicher Behandlung? Welche Behandlungen und Therapien (Medikation, Psychotherapie et cetera) wurden bereits eingeleitet, durch- oder fortgeführt beziehungsweise sind noch vorgesehen?
Wenn ja, welche Medikamente werden in welcher Dosierung eingenommen? Vollständige Angaben zur Anamnese, der Diagnose, dem bisherigen Krankheitsverlauf, den bereits durchgeführten Untersuchungen und Behandlungen sowie den noch vorgesehenen Therapien und den konsultierten Ärzten machen in vielen Fällen Rückfragen überflüssig und verkürzen die Bearbeitung des Leistungsantrags.
Bereits vorliegende Arztbriefe, Befunde, Abschluss- und Entlassungsberichte der (mit-)behandelnden Ärzte, Krankenhäuser und Reha-Kliniken sollten immer in Kopie mit dem Fragebogen eingereicht werden. Natürlich helfen wir dem Kunden auf Wunsch auch bei der Beschaffung dieser Unterlagen.
Teilweise reichen die medizinischen Unterlagen, die dem Kunden vorliegen, für eine abschließende Leistungsprüfung nicht aus und Arztauskünfte werden erforderlich. In der Regel sind diese Anfragen eines Versicherers bei den Ärzten genauso beliebt wie die Schwarze Pest im Mittelalter. Die Folge: Die erforderlichen Auskünfte werden nicht erteilt. Werden deshalb die Anfragen beim Arzt oder der gesetzlichen Rentenversicherung von dem zuständigen Leistungsregulierer terminiert? Und in welchen zeitlichen Abständen werden Erinnerungen versendet?
Selbstverständlich halten wir – sofern sie zur Klärung der Krankengeschichte und der Frage der Berufsunfähigkeit erforderlich sind – geeignete Anfragen bei Ärzten, der gesetzlichen Krankenkasse oder der Berufsgenossenschaft, dem Sozialversicherungsträger und setzen sie auf Terminwiedervorlage.
Parallel zum Versand einer Anfrage informieren wir auch den Versicherungsnehmer oder dessen beauftragten Vertreter über unsere Vorgehensweise. Der Kunde in seiner Eigenschaft als Patient oder versichertes Mitglied kann sich dadurch auch für eine schnellere Erledigung unserer Anfrage einsetzen.
Sofern innerhalb von vier Wochen keine Antwort vorliegt, greift unser Erinnerungsservice mit der höflichen Bitte um eine zeitnahe Übermittlung der angefragten Informationen.
Kommen wir auf die Anfragen bei der Deutschen Rentenversicherung zurück. Aus meiner Alltagspraxis als Versicherungsberater weiß ich, dass die Bearbeitung dieser Anfragen von allen Beteiligten durchaus ein Höchstmaß an Geduld erfordert. Bei einem meiner aktuellen Versicherungsfälle steht die Antwort des Rentenversicherungsträgers auf die Anfrage des Versicherers auch nach wiederholter Erinnerung seit über drei Monaten aus. Wie gehen Sie mit diesem Problem um?
Fachärztliche Gutachten der Deutschen Rentenversicherung werden von uns in der Regel nur beigezogen, sofern sie bereits verfügbar sind und die Befundlage unklar oder lückenhaft ist.
Dies ist der Fall, wenn kaum verwertbare ärztliche Berichte über die Auswirkungen der Erkrankungen oder der Verletzungen auf die Berufsausübung vorliegen oder der Kunde eine Anfrage bei der deutschen Rentenversicherung ausdrücklich wünscht.
In den meisten Fällen wurde über einen Antrag des Kunden auf Leistungen wegen Erwerbsminderung zum Zeitpunkt der Leistungsregulierung noch nicht entschieden. Somit sind Unterlagen der Deutschen Rentenversicherung noch gar nicht verfügbar. Dauert eine Anfrage zu lange, wird natürlich ohne Einbeziehung dieser Nachweise entschieden.
Bei einem Antrag auf eine Berufsunfähigkeitsversicherung muss der Kunde seine vorvertragliche Anzeigepflicht erfüllen und die vorgelegten Fragen vollständig und wahrheitsgemäß beantworten. Die Mehrheit der Kunden kommt dieser Verpflichtung gewissenhaft nach. Doch es gibt auch schwarze Schafe. Prüfen Sie zu jedem Leistungsantrag eine mögliche Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht?
Das hängt maßgeblich von der zurückliegenden Vertragsdauer ab. Sofern uns ein Versicherungsfall innerhalb der ersten fünf Versicherungsjahre gemeldet wird, schauen wir – auch im Interesse der Versichertengemeinschaft – sehr genau hin.
Allerdings gibt es Fälle, in denen sich eine Überprüfung der vorvertraglichen Anzeigepflicht in der Regel erübrigt. Es muss also nicht jeder Leistungsantrag innerhalb der ersten fünf Jahre diesbezüglich überprüft werden, wie zum Beispiel bei einem schweren Unfall oder auch Krebserkrankungen.
Ein eventueller Verstoß gegen vorvertragliche Anzeigepflichten wird regelmäßig, aber nur innerhalb der ersten zehn Versicherungsjahre immer dann geprüft, wenn es Indizien für eine sehr lange Krankengeschichte gibt oder wenn es sich beispielsweise um einen schleichenden Krankheitsprozess handelt.
Aber auch hier gibt es Grenzen. Einem Bandscheibenvorfall gehen zuweilen mehrjährige Rückenbeschwerden voraus. Aber auch psychische Leiden entstehen meist nicht spontan.
Vermittler stellen oft die Frage, warum im Rahmen der Leistungsprüfung auch Einkommensnachweise vorgelegt werden müssen.
In der Regel ist die Vorlage von Einkommensnachweisen zur Feststellung der bisherigen Lebensstellung des Kunden nur dann erforderlich, wenn begründete Aussicht besteht, dass nach einer Besserung des Gesundheitszustandes und der beruflichen Leistungsfähigkeit nach einem Berufswechsel eine neue Beschäftigung aufgenommen wird.
In wenigen Ausnahmefällen müssen aber auch die bei Abgabe der Vertragserklärung angegebenen Einkünfte überprüft werden, die ja bei der Höhe der versicherten BU-Rente eine maßgebliche Rolle gespielt haben.
Die vorvertragliche Anzeigepflichtverletzung sehen viele Vermittler als ein Damoklesschwert. Können Sie Ihre Aussage mit konkreten Zahlen unterfüttern?
Natürlich. Unsere Organisationseinheit bearbeitete im Jahr 2019 circa 800 Anträge; davon betrafen circa 560 Vorgänge Anträge auf Leistungen wegen Berufsunfähigkeit.
In knapp 4 Prozent der BU-Vorgänge wurde eine Anzeigepflichtverletzung festgestellt. In der Hälfte, also bei circa 2 Prozent, mussten wir eine Anfechtung erklären. Knapp unter 2 Prozent hatten einen Rücktritt zur Folge. Bezogen auf sämtliche biometrischen Leistungsanträge war die Quote natürlich niedriger.
Gewähren Sie im Einzelfall auch Leistungszahlungen ohne Anerkennung einer Rechtspflicht?
Nein, in der Regel erklären wir unsere Leistungspflicht nach Abschluss unserer Prüfung des Leistungsantrags. Doch auch bei uns gilt: keine Regel ohne Ausnahme. So konnten beispielsweise während des Pandemie-Shutdowns die ärztliche Untersuchung und Begutachtung eines Versicherungsnehmers nicht zeitgerecht durchgeführt werden.
Eine Verschiebung hätte die Bearbeitung des Leistungsantrags unangemessen verzögert. Nachdem eine Berufsunfähigkeit von mindestens vier Monaten unstrittig war und nur die Dauer der Berufsunfähigkeit durch einen ärztlichen Gutachter geklärt werden musste, hatten wir die vertraglich vereinbarte Rente ohne Anerkennung einer Rechtspflicht bis zur abschließenden Klärung der Leistungsdauer für zunächst ein Jahr bewilligt.
Immer wieder wird eine unzureichende Absicherung des Berufsunfähigkeitsrisikos thematisiert. Haben sich die versicherten Berufsunfähigkeitsrenten in den letzten Jahren erhöht? Und werden zwischenzeitlich höhere Rentenleistungen im Vergleich zu den Vorjahren ausbezahlt?
Die durchschnittliche Rentenleistung ist in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Während die Rentenleistung von 2014 regulierten BU-Versicherungsfällen im Durchschnitt 892 Euro im Monat betragen hatte, kletterte dieser Wert bis zum Jahr 2021 um 54 Prozent auf 1.375 Euro monatlich.
Die Bandbreite der ausbezahlten Berufsunfähigkeitsrenten reicht von 350 Euro bis 4.000 Euro im Monat.
Was sind die häufigsten Auslöser der leistungspflichtigen Versicherungsfälle?
Die meisten leistungspflichtigen Versicherungsfälle sind auf eine psychische Erkrankung der versicherten Person zurückzuführen. Die Plätze 2 und 3 werden von Erkrankungen der Wirbelsäule und von Krebserkrankungen belegt.
Konnten Sie in den letzten Jahren eine Verschiebung bei den ursächlichen Leistungsauslösern feststellen?
Ja, psychische Erkrankungen haben als ursächliche Leistungsauslöser einer leistungspflichtigen Berufsunfähigkeit deutlich zugenommen. Eine Entwicklung, die wir bei allen Lebensversicherungsgesellschaften beobachten können.
Kommen wir auf ein Thema, das uns seit Anfang 2020 begleitet. Glauben Sie, dass die Pandemie sich auf die Leistungsfallzahlen auswirken wird?
Wir konnten in den letzten Monaten bereits einen kontinuierlichen Anstieg bei den Leistungsanträgen feststellen. Ein Zusammenhang mit der Pandemie ist derzeit noch nicht darstellbar.
Wir erwarten aber eine Zunahme von Leistungsanträgen nicht nur aufgrund von neurologischen Spätfolgen oder Organschädigungen (zum Beispiel in der Lunge oder im Herz) infolge einer Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus und einer Virusmutante, sondern vermehrt auch aufgrund von psychischen Erkrankungen (anhaltende Belastungs- und Überforderungssituationen, Verschlimmerung bereits vorhandener psychischer Erkrankungen, Angst- und Somatisierungsstörungen), aber auch von Suchterkrankungen und nicht zuletzt dem Bewegungsmangel, selbst wenn keine entsprechende Infektion bei dem Betroffenen vorlag.
Bisher haben wir nur wenige AU-Leistungsanträge aufgrund von „Long Covid“ reguliert.
Handelt es sich Ihrer Meinung nach bei der aktuellen Zunahme von Leistungsanträgen aufgrund von Depressionen um die befürchteten Kollateralschäden der Pandemie?
Bisher halten sich die Leistungsanträge infolge der Pandemie noch in Grenzen. Wir befürchten aber – wie gesagt – eine Zunahme von Leistungsanträgen infolge des Verlusts des Arbeitsplatzes oder der selbstständigen Existenz, also der wirtschaftlichen/ finanziellen Not als Risikofaktor Nummer eins, wegen der psychischen Belastungen, der sozialen Isolation und aufgrund von anhaltenden Existenzängsten ganz allgemein.
Ich befürchte, dass sicherlich nicht alle, aber künftig eine Vielzahl dieser Fälle zumindest in einem kausalen Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie zu sehen sein werden.
Herr Strencioch, ich bedanke mich für das interessante Gespräch und den gewährten Einblick in Ihren Berufsalltag.