Evolutionär oder revolutionär – der Wandel wird kommen

© (1) Darios – stock.adobe.com (2) Thomas Fritzsche

Wer kennt nicht die Situation: Man sitzt im Sommer mit der Familie beim Essen im Garten und auf einmal gesellen sich ein paar Bienen dazu. Es summt um einen herum und die Reaktionen der Anwesenden sind sehr unterschiedlich. Von konzentriertem Gleichmut bis zum panischen Herumschlagen, alles ist vertreten.

Auswirkungen auf Organisation und Führung und was wir von Bienen lernen können

Ein Beitrag von Thomas Fritzsche

Das vermeintlich unkoordinierte und unorganisierte Verhalten der Bienen hat jedoch System und in einigen Bereichen wie ihrer Reaktionsfähigkeit, Flexibilität und Entscheidungsfindung sind
sie perfekt auf ihre Umwelt eingestellt. Wenn Sie das nächste Mal in einer solchen Situation sind, denken Sie einmal darüber nach, was wir von den Bienen lernen können. Unternehmen und Mitarbeiter erlebten durch die disruptiven Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und die in den letzten Monaten zunehmend gesteigerten Herausforderungen deutlich, wozu sie in der Lage sind, was sie im Team bewegen können und an welchen Stellen es noch dringenden Handlungsbedarf gibt.

Thomas Fritzsche

Die Komplexität und Dynamik der Pandemie zeigten allen im Zeitraffer und mit einem Brennglas, welche Stärken und Schwächen bei der Zusammenarbeit in Unternehmen bestehen. Es führte zu einer weitgreifenden Veränderung beziehungsweise Neustrukturierung des gesellschaftlichen, privaten und wirtschaftlichen Lebens.

Die Auswirkungen beschränken sich dabei nicht nur auf die finanziellen Aspekte, sondern betreffen die gesamten Wertschöpfungsketten in allen Industrien. In den nächsten Monaten müssen neben strategischen Themen, wie die Überprüfung von Unternehmens- und Produktportfolios, auch Anpassungen an den Organisationsstrukturen, den Führungs- und Kommunikationssystemen
sowie in der Unternehmenskultur auf der Agenda stehen.

Unternehmen, die heute schon agile und netzwerkorientierte Arbeitsweisen umsetzen, haben durch ihre Fähigkeiten und Eigenschaften gezeigt, dass diese vor, während und mit Sicherheit auch nach der derzeitigen Krise von großem Nutzen sind. Auch wenn seit Jahren ein notwendiges Umdenken kommuniziert wird, so hält eine große Anzahl der Unternehmen weiterhin an den traditionellen und zum Teil überholten Organisationsstrukturen und Führungssystemen fest beziehungsweise setzt gebotene Anpassungen nur langsam und halbherzig um.

Häufig ist das Führungsverhalten dadurch gekennzeichnet, dass die Erfolge in erster Linie der eigenen Kompetenz und Weitsicht zugerechnet werden und gleichzeitig den Mitarbeitern in größerem Umfang die Kompetenzen zur Selbstregulation (Selbstorganisation und -steuerung) abgesprochen werden. In den vorherrschenden Organisationsstrukturen werden Mitarbeiter
vor allem im vorhandenen Rahmen gehalten und Formen des kreativen Ungehorsams unterbunden.

Lernen von biologischen Systemen?

Die rasant gestiegene Umweltkomplexität sowie die Vielzahl an Entscheidungssituationen unter Unsicherheit zeigen jedoch, dass diese bestehenden Organisationsstrukturen und Führungssysteme inflexibel und störanfällig sind. Um diesen potenziellen Störfeldern zu begegnen, sind Veränderungen der Strukturen, ein geändertes Management-und Führungsverständnis sowie Führungsverhalten notwendig.

Organisationsforscher untersuchen seit Langem natürliche Systeme. Umwelteinflüsse bewirken Veränderungen und innerhalb von biologischen Systemen finden Anpassungsmechanismen
statt. Der Schwarm, der nach dem Prinzip der Wechselseitigkeit „Ich gebe, damit du gibst“ agiert, stellt ein solches System dar, denn Schwärme finden und erfinden sich aufgrund von Umwelteinflüssen unaufhörlich neu.

Die agile Organisationsstruktur, Kommunikation, das systemische Handeln sowie das ausgeprägte Beziehungsmanagement ermöglichen dem Bienenschwarm die Anpassungsfähigkeiten, die ihn zu einer agilen Organisation – einem Superorganismus – machen.

Jeder neue stabile Zustand stellt ein brillantes Zwischenergebnis dar. Die zunehmend hohe Dynamik, die fehlende Stetigkeit und Unbestimmtheit, an die privaten Leben weiterhin gewöhnen
müssen, ist im Schwarm enthalten. Ein Bienenschwarm ist ein solches natürliches, wechselseitig agierendes System. Die agile Organisationsstruktur, die Flexibilität, die Kommunikation, das
systemische Handeln sowie das ausgeprägte Beziehungsmanagement er möglichen dem Bienenschwarm die Anpassungsfähigkeiten, die ihn zu einer agilen Organisation – einem Superorganismus – machen.

Ein sehr aktuelles Beispiel der Anpassungsfähigkeit der Bienen zeigt sich in ihrem Umgang mit erkrankten Artgenossen. Die Bienen setzen auf soziale Distanz, um ihr Bienenvolk vor der Ausbreitung von Krankheitserregern zu schützen, und praktizieren Social Distancing schon seit Millionen von Jahren. Infizierte Bienen bewegen sich zwar weiterhin im Bienenstock, jedoch halten ihre Artgenossen ihnen gegenüber Abstand und sie werden auch bei anderen Aktivitäten gemieden.

Im schlimmsten Fall kann es allerdings auch dazu kommen, dass die gesunden Bienen einen neuen Bienenstock gründen. Um ein Gramm Honig zu produzieren, benötigen die Bienen bis zu 6.000 Blütenbesuche. Dabei legt die Sammlerinnenschar eine Strecke zwischen 120 und 240 Kilometer zurück.

Das geschäftige Treiben in einem Bienenstock, das für den Betrachter chaotisch erscheinen mag, ist eine Meisterleistung, die von einem Bienenvolk nur auf der Grundlage einer klaren Aufgabenteilung und einer hohen Organisationsstruktur bewältigt werden kann.

Die Bienen agieren dabei als sozialisierte, lern- und kommunikationsfähige Wesen im höchsten Maße effizient. Die Grundprinzipien, nach denen ein Bienenvolk handelt, sind eine strenge und intensive Arbeitsteilung, eine gemeinsame Entscheidungsfindung sowie das Prinzip der Nützlichkeit. Dieses Prinzip ist das übergeordnete Ziel beziehungsweise der Zweck im Zusammenleben der Bienen.

Das oberste Gebot ist das Überleben des Bienenvolkes und dieser Ansatz, die Sicherung des Allgemeinwohls und des Fortbestands, ist die Basis der Zusammenarbeit.

Führung: funktional und effektiv

Im Gegensatz zu den meisten Unternehmen ist ein Bienenvolk weiblich dominiert. Es besteht aus einer Bienenkönigin, bis zu 2.000 männlichen Drohnen und maximal 80.000 weiblichen Arbeitsbienen. Die Königin übernimmt keine Führungsrolle in einem Bienenvolk, weder aufgrund ihrer hierarchischen Rolle noch eines besonderen Verhaltens. Ohne ihre Arbeiterinnen, die sie putzen und füttern, wäre die Königin nicht überlebensfähig.

Der Hofstaat versorgt die Königin, damit sie den überlebenswichtigen Fakt der Sicherung des Fortbestandes des Bienenvolkes erfüllen kann. Um auch auf unvorhersehbare Situationen vorbereitet zu sein, legt die Königin zudem vorsorglich Eier in die Brutzellen, aus denen neue Königinnen nachgezogen werden, sollte ihr etwas passieren. Dies ist vorausschauender Pragmatismus in Reinform. Eine ähnliche pragmatische Vorgehensweise zeigt sich bei den Drohnen.

Die wenigen männlichen Bienen (Drohnen) werden ausschließlich zum Zweck der Befruchtung herangezogen, um anschließend aus dem Bienenstock geworfen zu werden. Diese radikale Vorgehensweise ist einfach zu erklären: Nach der Befruchtung sind die Drohnen nicht mehr für das Überleben des Bienenvolkes nützlich und stellen nur eine Belastung dar.

Die Aufgabenteilung wird von den Bienen sehr gut organisiert. So gibt es in einem Bienenvolk unter anderem Putzbienen, Baubienen, Brutpflegebienen, Pfadfinderbienen sowie Sammlerbienen
und Heizer- beziehungsweise Tankwartbienen. Eine besonders beeindruckende Form der Arbeitsteilung zeigt sich bei den Heizerinnen und den Tankwartbienen. Um die optimale Temperatur im
Bienenstock von circa 35 Grad Celsius konstant zu halten, bringen die Heizerinnen bei großer Hitze Wasser in den Bienenstock und bei Kälte erwärmen sie diesen mit Flügelschlägen. Da die
Heizerinnen nach kurzer Zeit erschöpft sind, werden sie direkt an Ort und Stelle von den Tankwartbienen mit Nahrung versorgt.

Ein Teil der Gemeinschaft

Die Bienen machen sich gemäß ihrem Entwicklungsstandes in der Gemeinschaft nützlich. Sie leisten an der Stelle ihren Beitrag, an der sie am leistungsfähigsten und nützlichsten sind. Ein
Beispiel der effizienten Arbeitsteilung zeigt sich in der flexiblen Zuteilung der Aufgaben. Sobald die Sammlerinnen zum Bienenstock zurückgekehrt sind, übergeben sie Nektarproben an die
Stockbienen.

Wenn sich ein Mangel zeigt, werden zusätzlich Sammlerinnen aktiviert oder es wird ein großer Jobwechsel von den Stockbienen zu den Sammlerinnen organisiert. Durch diesen Wechsel übernehmen in kürzester Zeit die Stockbienen eine neue funktionale Aufgabe.

Die organisatorischen Abläufe passen sich blitzschnell an, sobald Mangelerscheinungen eine Umsteuerung des Systems erforderlich machen. Die Form der „Jobrotation“ vollzieht
sich durch ein ausgeprägtes und faszinierendes Kommunikations- und Informationsverhalten. Bei der Entscheidung, zum Beispiel für eine neue Futterquelle, geben Pfadfinderbienen Hilfestellung.

Diese Pfadfinderbienen legen ein spezifisches Netz aus Duftspuren mit allen relevanten Informationen  über das Einzugsgebiet. Der Informationsaustausch findet direkt am
Eingang des Bienenstocks statt. Auf dem sogenannten „Tanzboden“ werden die Informationen über die aktuelle Pollen- oder Nektarsituation mittels eines Rund- beziehungsweise Schwänzeltanzes weitergegeben.

Dieser Bienentanz folgt einem ritualisierten Bewegungsmuster, aus dem die Bienen die Entfernung und Richtung zu den Futterquellen ablesen können. Nach dem Austausch von Kost- oder Geruchsproben schwärmen Kundschafterinnen aus, um die dargestellten Alternativen zu überprüfen. Nach und nach bilden sich Teams, die ebenfalls die Vorschläge überprüfen und die Informationen ihrerseits in der dargestellten Form weitergeben.

Über diesen Weg kommen nur positiv bestätigte Alternativen in die nächste Entscheidungsrunde und es kristallisiert sich eine allgemeine Meinung über die beste Option heraus. Sobald eine gewisse Anzahl an Kundschafterinnen für den gleichen Ort werben, ist dies das Signal für das Bienenvolk. Das Zusammenwirken dieser Spezialteams trägt zum „wirtschaftlichen Erfolg“ und zur Überlebensfähigkeit des Bienenvolkes bei.

Wir können alle von den Bienen lernen. Ganz nach dem Motto ›die Gedanken sind frei kann jeder in einer Art Selbstreflexion darüber nachdenken, welche Eigenschaften der Bienen in seinem eigenen Unternehmen und Umfeld zielführend sein können.

Anpassungsfähig und gleichzeitig radikal

Viele weitere Beispiele zeigen die Anpassungsfähigkeit eines Bienenvolkes. Das Beziehungsmanagement ist nicht geprägt durch Hierarchien oder das Geben und Nehmen, sondern durch
die gelebte wechselseitige Fürsorge zum Allgemeinwohl. Es gibt in einem Bienenvolk kein opportunistisches Verhalten. Das gemeinsame Ziel bestimmt jede einzelne Handlung und ist diesem
untergeordnet. Diese radikale Orientierung sichert das Überleben aller. Jede einzelne Biene kennt ihre Aufgabe und ist Teil des Ganzen, egal, ob es sich um das Sammeln von Nektar und Pollen,
das Füttern und Putzen von Artgenossen, das Heizen oder das Kühlen handelt.

Das System Bienenvolk wird durch die Klein- und Kleinstentscheidungen, das intensive Informations- und Kommunikationsverhalten und die Arbeit in Teams geprägt. Eine Idealkonstellation, die als Vorbild für Unternehmen stehen kann. Wir können alle von den Bienen lernen. Ganz nach dem Motto „Die Gedanken sind frei“ kann jeder in einer Art Selbstreflexion darüber nachdenken, welche Eigenschaften der Bienen in seinem eigenen Unternehmen und Umfeld zielführend sein können. Freuen Sie sich auf das nächste Update – die Geschichte der fleißigen Bienen ist noch lange nicht zu Ende erzählt.

Quellen:

Benthake, P.; Digitalisierung in Zeiten von Corona: für Versicherer der wichtige Schritt in die Agilität
Budde, J.; Bienen schützen sich mit sozialer Distanz vor Viren und Bakterien
Brombach, S.;Vom Schäfer zum Imker – und was hat das mit Führung zu tun?
Kellermann, C.; Agil trotz Homeoffice? Wie agile Organisationsprinzipien Unternehmen in der Corona-Krise helfen können 
Korte, T.; Wie Versicherungsunternehmen die Corona-Krise meistern
Offermann, S.; Bienen mögen`s warm
Podbregbar, N.; Bienenvirus trickst seine Wirte aus
Rissbacher, C.; Stahl, H.K.; Die Biene. Ein Vorbild
Singh, S.; Die 4 Merkmale einer agilen Organisation 
Vaupel, M., Dr.; Wirtschaftspsychologie aktuell; E-Dossier Führung; Rising Starswelche Mindsets zukunftsfähige Führung braucht; S. 5-11
Unbekannter Autor; Bienenschwarm-Warum schwärmen Bienen?
Unbekannter Autor; Perfekte Aufgabenteilung unter Bienen
Unbekannter Autor; Das Bienenvolk-Königin, Drohnen und Arbeiterinnen