Kommunale Haushalte im Ausnahmezustand: Sozialausgaben explodieren, Gewerbesteuer schwächelt

Die Haushaltslage der deutschen Kommunen spitzt sich dramatisch zu. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, verzeichneten die kommunalen Kern- und Extrahaushalte im Jahr 2024 ein Finanzierungsdefizit von 24,8 Milliarden Euro – so hoch wie nie zuvor seit der Wiedervereinigung. Im Vergleich zu 2023 hat sich das Minus fast vervierfacht. Bereits 6,2 Prozent aller kommunalen Ausgaben mussten im vergangenen Jahr durch Rücklagen oder neue Schulden gedeckt werden. Der finanzielle Spielraum der Städte und Gemeinden schrumpft rapide.

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Grok

Gewerbesteuer: Rückgrat der Kommunalfinanzen wankt

Besonders alarmierend für viele Gemeinden ist die Entwicklung der Gewerbesteuer, traditionell das Rückgrat der kommunalen Finanzautonomie. Mit einem Zuwachs von lediglich 0,3 Prozent auf 62,1 Milliarden Euro ist diese zentrale Einnahmequelle 2024 de facto zum Stillstand gekommen – ein drastischer Bruch mit den kräftigen Steigerungen der Vorjahre. Für wirtschaftlich schwächere Kommunen, deren Haushalte stark von der lokalen Wirtschaftsleistung abhängig sind, bedeutet dies einen dramatischen Verlust an Planungssicherheit und Gestaltungsfähigkeit. Die Investitionsspielräume schrumpfen, freiwillige Leistungen stehen auf dem Prüfstand, und vielerorts geraten selbst Pflichtaufgaben unter Druck. Die zunehmende Abhängigkeit von Ausgleichszahlungen der Länder und vom Bund untergräbt die kommunale Eigenverantwortung – mit langfristigen Folgen für Demokratie und Daseinsvorsorge vor Ort.

Einnahmendynamik lässt nach – strukturelle Schieflage wächst

Trotz eines moderaten Einnahmenzuwachses von 3,5 Prozent auf 338,5 Milliarden Euro in den Kernhaushalten, konnten die Kommunen der Dynamik auf der Ausgabenseite nicht standhalten. Die Gesamteinnahmen der Kern- und Extrahaushalte stiegen um 7,6 Prozent – deutlich weniger als die Ausgaben, die um 12,6 Prozent in die Höhe schnellten. Die Netto-Steuereinnahmen legten lediglich um 1,5 Prozent zu. Die Grundsteuer brachte vor ihrer Reform 2025 noch ein kleines Plus von 4,0 Prozent auf 14,5 Milliarden Euro, die Anteile an Einkommen- und Umsatzsteuer wuchsen nur marginal. Insgesamt zeigt sich: Die Einnahmenseite verliert an Zugkraft, während die Ausgaben ungebremst steigen.

Sozialleistungen als finanzielle Zerreißprobe

Zentraler Ausgabentreiber bleibt der Sozialbereich. Die bereinigten Ausgaben der kommunalen Kernhaushalte stiegen 2024 um 8,8 Prozent auf 362,7 Milliarden Euro – davon entfielen 84,5 Milliarden Euro auf Sozialleistungen (+11,7 %). Ursache hierfür waren insbesondere die zum Jahresbeginn angehobenen Regelsätze bei Sozialhilfe und Bürgergeld. Die Folge: mehr Anspruchsberechtigte, höhere Einzelleistungen – und ein wachsender Druck auf die kommunalen Träger.

Allein die Ausgaben für Sozialhilfe nach SGB XII wuchsen um 12,4 Prozent auf 21,1 Milliarden Euro. Die Kinder- und Jugendhilfe nach SGB VIII verzeichnete einen Anstieg um 17,1 Prozent, die Eingliederungshilfe nach SGB IX kletterte um 13,6 Prozent auf 22,7 Milliarden Euro. Die Leistungen nach SGB II inklusive Bildungs- und Teilhabepaket stiegen um 4,4 Prozent, Unterkunftskosten erhöhten sich auf 14,6 Milliarden Euro – trotz Teilkompensation durch den Bund. Auch die Ausgaben nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nahmen leicht zu.

Die Belastung konzentriert sich auf die Landkreise, kreisfreien Städte und Sozialverbände, die rund 95 Prozent der kommunalen Sozialausgaben schultern. Für viele Träger ist das bereits eine finanzielle Zerreißprobe.

Personalaufwand und strukturelle Herausforderungen

Hinzu kommt ein kräftiger Anstieg der Personalausgaben: +8,9 Prozent auf 88,1 Milliarden Euro – getrieben durch Tarifsteigerungen und zusätzlichen Personalbedarf. Während die Gemeinden in Schlüsselbereichen wie Verwaltung, Kinderbetreuung oder öffentlicher Sicherheit weiter aufstocken, geraten sie gleichzeitig unter wachsenden Finanzierungsdruck.

Verzerrt wird die Gesamtschau zudem durch methodische Änderungen: Durch die Aufnahme von rund 370 ÖPNV-Unternehmen in die Statistik ab dem zweiten Quartal 2023 – infolge der Einführung des Deutschlandtickets – sind Vorjahresvergleiche in einigen Kategorien (z.B. Personal- und Sachausgaben, Gebühreneinnahmen) nur eingeschränkt möglich.

Der finanzielle Erosionsprozess ist in vollem Gange

Das kommunale Haushaltsjahr 2024 markiert eine Zäsur. Die strukturelle Schieflage zwischen wachsenden sozialen Pflichten und stagnierenden Einnahmequellen, insbesondere der schwächelnden Gewerbesteuer, droht sich zu verfestigen. Die Rekordzahlen sind nicht bloß Momentaufnahme, sondern Ausdruck eines systemischen Problems: Der finanzielle Erosionsprozess der kommunalen Selbstverwaltung ist längst im Gange. Ohne politische Gegensteuerung auf Landes- und Bundesebene wird er sich weiter beschleunigen.


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