Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde stärkt Verbraucherschutz entscheidend

Der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz hat in einer am Freitag, den 5. August 2022, veröffentlichten Entscheidung ein Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Koblenz aufgehoben und zur erneuten Verhandlung an das OLG Koblenz zurückverwiesen. Die Entscheidung dürfte weitreichende Folgen für die Beurteilung der Frage haben, inwieweit ein Widerspruch beziehungsweise Rücktritt von Kapitallebensversicherungsverträgen beziehungsweise Rentenversicherungsverträgen und dessen Durchsetzung möglich ist und die häufig zu beobachtende einseitige Rechtsprechung zugunsten der Versicherungsgesellschaften in entscheidungserheblicher Weise beenden.

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Bei dem Rechtsstreit ging es um die Frage, ob der von Witt Rechtsanwälte vertretene Mann Ansprüche wegen eines Widerspruchs beziehungsweise Rücktritts von einem Kapitallebensversicherungsvertrag geltend machen kann. Der Versicherungsvertrag war im Jahre 2002 abgeschlossen worden, im Jahre 2016 war der Widerspruch erklärt worden. Die betroffene Lebensversicherungsgesellschaft (Clerical Medical, jetzt Scottish Widows) hielt den Anspruch für unbegründet, unter anderem da der Lebensversicherungsvertrag zum vereinbarten Vertragsende bereits im Jahre 2012 abgewickelt wurde.

Das OLG Koblenz gab der beklagten Lebensversicherungsgesellschaft zunächst recht. Der Verfassungsgerichtshof rügt in seiner 41-seitigen Entscheidung Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 der Rheinland-Pfälzischen Verfassung, wonach jedermann einen Anspruch auf den gesetzlichen Richter habe (analog Art. 101 I S. 2 GG). Dieser sei jedoch im vorliegenden Fall dem Kläger entzogen worden, da das OLG Koblenz seiner Pflicht zur Anrufung des Europäischen Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nicht nachgekommen sei.

In der Praxis handelt es sich um keinen Einzelfall, wie Rechtsanwalt Tobias Pielsticker aus München, der das Verfahren geführt hat, berichtet:

Wir erleben fast täglich, dass sich die Instanzgerichte über Europäisches Recht und ihre Vorlagepflicht gegenüber dem Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 AEUV zulasten von Verbraucherinnen und Verbrauchern hinwegsetzen. Das hat zu unerträglichen Zuständen geführt, die durch den Beschluss des Verfassungsgerichtshofs dauerhaft korrigiert sein sollten. Der Verfassungsgerichtshof ist dabei in den wesentlichen Punkten unseren Argumenten gefolgt, insbesondere auch was die Auslegung bereits ergangener Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes anbelangt, die durch die Instanzgerichte vielfach verfälscht worden sind. So wurde aus einem verbraucherfreundlichen Urteil des EuGH einfach ein Urteil zum Abbau des Verbraucherschutzes gemacht. Viele deutsche Gerichte weigern sich versteckt oder offen, das europäische Verbraucherschutzniveau und die Kompetenzen des EuGH anzuerkennen. Dem hat der Verfassungsgerichtshof nun eine klare Absage erteilt und damit einen effektiven Verbraucherschutz gestärkt. Auch der Bundesgerichtshof, der sich zu den entscheidenden Fragen bisher ausgeschwiegen hat, ist nun aufgefordert, eine Klärung durch den EuGH herbeizuführen, die mit Sicherheit zugunsten der Verbraucherinnen und Verbraucher ausfallen wird.

Das zeigen Parallelen im Bereich des Verbraucherkreditrechts, in dem der EuGH zuletzt vielfach die verbraucherfeindliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs korrigieren musste:

Bei dem Widerruf von Darlehensverträgen gingt es bei der Durchsetzung der Ansprüche um ähnliche Rechtsfragen, die von dem zuständigen XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes (Bankensenat) bis vor kurzem ebenfalls in einer die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ignorierenden Art und Weise entschieden wurden. Hier kamen mehrere Kehrtwenden nach verschiedenen Vorlagen des Landgerichts Ravensburg zum Europäischen Gerichtshof, zu denen dieser sich in seiner Entscheidung vom 9. September 2021 klar zugunsten der Verbraucherinnen und Verbraucher positionierte und der bis dahin vertretenen Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofes eine klare Absage erteilt. Der Bankensenat hat daraufhin seine für die Betroffenen ungünstige Rechtsprechung aufgegeben. Es ist einem Laien nicht mehr vermittelbar, wie es überhaupt im Vorfeld zu einer so unterschiedlichen Bewertung zwischen dem BGH und dem EuGH kommen konnte, aber die Durchsetzung eines effektiven Verbraucherschutzes besitzt auf der europäischen Ebene eben bisher ein wesentlich höheres Gewicht als in Deutschland.

Auch im Bereich der Lebensversicherungen ist es in diesem Zusammenhang sehr bedauerlich, dass wieder nicht der Bundesgerichtshof frühzeitig den EuGH einbezogen hat, sondern diese Notwendigkeit erst durch ein Verfassungsgericht festgestellt werden musste. Wie gesagt findet sich dieses Phänomen leider auch in vielen anderen Bereichen – so beispielsweise im Umgang mit unwirksamen Klauseln der Energieversorger. Auch hier hat der BGH am EuGH vorbei eine Lösung zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher gewählt.

Bundesweit wurden in den letzten Jahren mindestens einmal Hunderte, wenn nicht Tausende von Gerichtsverfahren geführt (bei denen es um den Widerspruch beziehungsweise Rücktritt von Lebensversicherungs- beziehungsweise Rentenversicherungsverträgen ging), bei denen nach der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz nunmehr davon auszugehen ist, dass rechtskräftig verlorene Gerichtsverfahren auch unter Verstoß gegen das Grundgesetz (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) erfolgt sind.

Die Zahl dieser Fälle schätzt die Kanzlei Witt Rechtsanwälte als nicht gering ein, bei denen Gerichtsverfahren verloren wurden und in denen eine Vorlage zum Europäischen Gerichtshof zwingend erforderlich gewesen wäre. Im Ergebnis bedeutet dies, dass bundesweit in diesen Fällen deutsche Gerichte in den entsprechenden Fällen rechtswidrig gehandelt haben, betroffen sind zahlreiche Land- und Oberlandesgerichte in Deutschland. Ob und inwieweit dies auch Konsequenzen (Amtshaftungsansprüche) haben kann, wird von der Kanzlei derzeit geprüft.

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