Großbaustelle soziale Pflegeversicherung

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Am 21.12.2022 hat das Statistische Bundesamt die Pflegestatistik für den Berichtszeitraum 2021 veröffentlicht. Die von den obersten Datenhütern publizierten Fallzahlen sind alarmierend. So bezifferte die Behörde die Zahl der pflegebedürftigen Leistungsempfänger zum Stichtag 31.12.2021 auf 4,961 Millionen.

Blickt man zurück auf die Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung im Jahr 1995, so gingen damalige Hochrechnungen zur Entwicklung der Pflegefallzahlen davon aus, dass die Marke von vier Millionen Leistungsempfängern frühestens im Jahr 2040 erreicht werden sollte. Die finanziellen und volkswirtschaftlichen Folgen des nunmehr dokumentierten Anstiegs der Fallzahlen sind weitreichend, mahnt Alexander Schrehardt von AssekuranZoom.

Wer soll (kann) das bezahlen?

Mit dem Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz hatte der im Jahr 2021 amtierende Gesundheitsminister Jens Spahn wichtige Weichenstellungen in Richtung einer finanziellen Entlastung und einer verbesserten Versorgung von pflegebedürftigen Versicherten vorgenommen. Der Leistungszuschuss für Versicherte der Pflegegrade 2 bis 5 in vollstationärer Pflege, ein Personalschlüssel für Pflegeheime und eine verpflichtende tarifvertragliche Regelung für in der Pflege beschäftigte Arbeitnehmer sind positiv zu bewerten.

Die höheren Ausgaben sollten mit einer Anhebung des Beitragszuschlages für kinderlose Versicherte der sozialen Pflegeversicherung von 0,25 Prozent auf 0,35 Prozent und einem jährlichen Zuschuss von einer Milliarde Euro aus dem deutschen Bundeshaushalt finanziert werden. Das Finanzierungskonzept des Ministers erwies sich allerdings als Wunschvorstellung, denn die soziale Pflegeversicherung verbuchte in 2022 ein Defizit von 2,2 Milliarden Euro.

Amtsnachfolger Karl Lauterbach arbeitet bereits an einer weiteren Reform der Pflegeversicherung. Dabei liegt ihm eine bessere Unterstützung der Laienpfleger am Herzen, die für 51,5 Prozent aller pflegebedürftigen Versicherten die alleinige Verantwortung für die pflegerische Versorgung übernehmen.

Alexander Schrehardt, Gesellschafter-Geschäftsführer, AssekuranZoom GbR

Weitere 21 Prozent der im Jahr 2021 Pflegebedürftigen erhielten Pflegesach- oder Kombinationsleistungen, das heißt, auch in diesen Fällen waren Familienangehörige und Laienpfleger zumindest zeitweise in die Pflege der Betroffenen involviert. Der Volksmund sagt: „Einen alten Baum verpflanzt man nicht.“ Das gilt auch für ältere pflegebedürftige Menschen, die ihr gewohntes soziales Umfeld und die eigenen vier Wände im Fall einer Pflegebedürftigkeit nicht verlassen wollen. Auch der Gesetzgeber hatte bereits bei Einführung der sozialen Pflegeversicherung im Jahr 1995 normiert, dass die häusliche Pflege durch Familienangehörige und Nachbarn vor allen anderen Formen der pflegerischen Versorgung Vorrang haben soll (§ 3 SGB XI). Ein hehrer Gedanke und aus Sicht der Betroffenen eine wünschenswerte Vorstellung. Doch diese Form der pflegerischen Versorgung sollte zwingend auch durch die Brille der pflegenden Angehörigen betrachtet werden.

Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf

Immer wieder steht die Frage im Raum, wie berufstätige Angehörige die Pflege eines Familienmitglieds, die Verpflichtungen gegenüber der eigenen Familie und die Bewältigung ihrer beruflichen Aufgaben unter einen Hut bekommen sollen. Mit dem Pflegezeit- und dem Familienpflegezeitgesetz wurden dann in der Tat die arbeitsrechtlichen Grundlagen für den Anspruch der Arbeitnehmer auf eine vollständige oder teilweise Freistellung zur Übernahme der pflegerischen Verantwortung im Familienkreis normiert. Allerdings muss in diesem Zusammenhang auch der Einkommensverlust, der mit einer Pflege- oder Familienpflegezeit verbunden ist, gesehen werden. Natürlich kann für die Dauer der (Familien-) Pflegezeit die Einkommensdifferenz zumindest teilweise mit einem zinslosen Darlehen des Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben kompensiert werden.

Doch das Darlehen ist am Ende der (Familien-)Pflegezeit auch wieder zurückzuführen. Vor allem für Arbeitnehmer mit einem niedrigeren Arbeitseinkommen bietet das Darlehen keine echte Lösung. Im Praxisalltag sind somit viele Angehörige ge- und oftmals überfordert, weil sie die Versorgung eines pflegebedürftigen Angehörigen zusätzlich zu ihrem Berufsalltag leisten müssen. In diesem Zusammenhang ist ergänzend anzumerken, dass die Entscheidung für eine Angehörigenpflege im häuslichen Umfeld in vielen Fällen aus monetären Gründen getroffen werden muss. So mussten 335.000 von 793.000 Versicherten im Jahr 2021in stationären Pflegeeinrichtungen Leistungen der Sozialhilfe in Anspruch nehmen. Auch wenn der Anspruch auf Hilfe zur Pflege gesetzlich geregelt ist, wird der Bezug von Sozialhilfe aus der Sicht vieler Menschen als beschämend empfunden.

Deshalb darf nicht übersehen werden, dass ein Großteil der Betroffenen ein Leben lang berufstätig war und den nach Abzug der Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung verbleibenden hohen Eigenanteil für die Pflegekosten aus eigenen Mitteln nicht bezahlen kann.

Dynamisierung im Gesetz … und in der Praxis?

Auch wenn der Gesetzgeber die häusliche Laienpflege im Sozialgesetzbuch XI bereits seit Einführung der sozialen Pflegeversicherung im Jahr 1995 favorisiert, erhalten pflegebedürftige Versicherte und deren Familienangehörige für diese Form der Versorgung die geringste finanzielle Unterstützung. So sieht das Sozialgesetzbuch XI in seiner aktuellen Fassung ein Pflegegeld von 316 Euro/Monat für Versicherte mit Pflegegrad 2 vor. Für Versicherte mit den Pflegegraden 3, 4 und 5 besteht ein Anspruch auf ein monatliches Pflegegeld von 545 Euro, 728 Euro beziehungsweise 901 Euro.

Der pflegebedürftige Versicherte kann das Pflegegeld steuerfrei vereinnahmen (§ 3 Nr. 1a EStG) und auch an einen Laienpfleger als Aufwandsentschädigung weiterreichen (Anmerkung: Auch für den Laienpfleger ist das weitergeleitete Pflegegeld eine steuerfreie Einnahme, § 3 Nr. 36 EStG). Bereits mit dem Pflegeweiterentwicklungsgesetz hatte der Gesetzgeber mit Wirkung zum 01.07.2008 die regelmäßige Überprüfung der Leistungen der sozialen Pflegeversicherung und deren Anpassung basierend auf der kumulierten Preisentwicklung normiert. Die Überprüfung der Leistungen sollte ab dem Jahr 2014 in dreijährigen Intervallen, das heißt nachfolgend in den Jahren 2017, 2020 und so weiter, erfolgen.

Die für das Jahr 2020 verpflichtend vorgesehene Prüfung wurde aber ausgesetzt und erst 2021 mit dem Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz wurden die Pflegesachleistungen um rund fünf Prozent und die Leistungen der Kurzzeitpflege um rund zehn Prozent erhöht. Die Bezieher von Pflegegeld, das heißt die Versicherten, deren pflegerische Versorgung ausnahmslos durch Familienangehörige und andere Laienpfleger gesichert wird, gingen dabei leer aus. Vor dem Hintergrund der hohen Inflationsrate, die im Oktober 2022 mit 10,4 Prozent ihren vorläufigen Höchststand der letzten Jahre markiert hatte, bedeutete diese Nullrunde somit weitere finanzielle Einbußen.

Volkswirtschaftlicher Schaden

Die pflegerische Versorgung eines Familienangehörigen neben einer vollschichtigen Berufstätigkeit führt viele Berufstätige an und oft auch weit über ihre Belastungsgrenzen hinaus. Dies hat auch für Arbeitgeber weitreichende Folgen, da derart belastete Arbeitnehmer entweder ihr Arbeitsverhältnis kündigen (Fluktuationsschaden) oder die vom Gesetzgeber gebotene Möglichkeit einer Freistellung im Rahmen einer Pflegezeit oder die Reduzierung ihrer regelmäßigen Arbeitszeit in Verbindung mit einer Familienpflegezeit in Anspruch nehmen (Absentismusschaden). Während die finanziellen Einbußen aus Absentismus- und Fluktuationsschäden von den Unternehmen beziffert werden können, gleichen Präsentismusschäden, das heißt Schäden aus einer eingeschränkten Leistungsfähigkeit von Arbeitnehmern infolge der Überlastung, einer Black Box.

In Zeiten hoher Energiekosten, ungünstiger Wechselkurse und von Lieferengpässen führen Präsentismusschäden zu einer weiteren unkalkulierbaren Belastung der Unternehmen in Milliardenhöhe. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat ein schweres Erbe angetreten und agiert auf dünnem Eis. Der Mediziner weiß sehr genau um die Probleme der gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung. Die steigenden Pflegefallzahlen und -kosten haben den Ausgabensaldo der sozialen Pflegeversicherung in 2022 auf 53,85 Milliarden Euro anwachsen lassen. Bei dem Versuch, einen weiteren Zuschuss aus dem Bundeshaushalt zu erhalten, handelte sich der oberste Gesundheitshüter von seinem Amtskollegen im Bundesfinanzministerium eine klare Absage ein. Infolgedessen stimmt Lauterbach die Versicherten der sozialen Pflegeversicherung bereits auf eine Erhöhung des Beitragssatzes ein (aerzteblatt.de, Ausgabe vom 11.01.2023). Deutliche Beitragserhöhungen sind auch bei den Versicherten der privaten Pflegeversicherung infolge der hohen Kostensteigerungen bereits im Jahr 2022 angekommen.

Beim Drehen an der Schraube des Beitragssatzes der sozialen Pflegeversicherung muss der Bundesgesundheitsminister mit viel Fingerspitzengefühl agieren. Einerseits müssen die Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung mit den Beitragseinnahmen und dem bislang gewährten Zuschuss aus dem Bundeshaushalt gedeckt werden; andererseits führen Beitragserhöhungen auch zu einer höheren Belastung der Unternehmen. In Zeiten einer schwächelnden Konjunktur sicherlich ein äußerst ungünstiger Moment. Sofern Lauterbach nicht die wundersame Geldvermehrung entdeckt, werden die vor allem beim Pflegegeld längst überfälligen Leistungsanpassungen – wenn überhaupt – sehr bescheiden ausfallen. Ein Teufelskreis, der eine nachhaltige Lösung beziehungsweise eine Entlastung pflegender Angehöriger auf Sicht nicht erkennen lässt.

§ 3 Köl’sches Grundgesetz

Natürlich kann der aus Düren stammende Bundesgesundheitsminister den Blick auf die benachbarte Domstadt lenken und auf das in der Politik oft strapazierte Prinzip Hoffnung gemäß dem § 3 Köl’sches Grundgesetz „Et hätt noch immer jot jejange“ vertrauen. Versicherungsvermittler, und hier vor allem Versicherungsmakler in ihrer Eigenschaft als Sachwalter ihrer Kunden, sollten das längst erkennbare Risiko überbordender Pflegekosten in ihren Beratungsgesprächen thematisieren. Die demografischen Verwerfungen in Deutschland werden einen Anstieg der Pflegefallzahlen und -kosten in den nächsten Jahren weiter katalysieren. Die von der Mehrheit der Kunden und nicht wenigen Vermittlern geübte Vogel-Strauß-Politik stellt dabei sicherlich keinen qualifizierten Lösungsansatz dar.

Bild (2): © AssekuranZoom GbR