Die Notwendigkeit einer stärkeren EU-Marktintegration wird immer deutlicher

Katharine Neiss, Chief European Economist bei PGIM Fixed Income, beleuchtet in ihrem Marktkommentar die Dringlichkeit einer stärkeren EU-Marktintegration. Sie analysiert die Reformvorschläge von Mario Draghi und deren Auswirkungen auf Investitionen, Wettbewerbsfähigkeit und die Zukunft der Eurozone.

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Katharine Neiss, Chief European Economist bei PGIM Fixed IncomeKatharine Neiss, Chief European Economist bei PGIM Fixed IncomePGIM

Die Vorschläge des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten und Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, zur Ankurbelung der EU-Wirtschaft sind auf ungewöhnlich breite Zustimmung gestoßen. Alle sind sich einig, dass Europa seine Wettbewerbsfähigkeit steigern, die Investitionen erhöhen und die Produktivität verbessern muss. Die jüngsten politischen Veränderungen in Frankreich und Deutschland haben jedoch Zweifel am Reformwillen aufkommen lassen. Auf nationaler Ebene hat sich dies in einem Ausverkauf von Staatsanleihen dieser Schlüsselländer niedergeschlagen.

Allerdings gab es jedoch auch Gegenreaktionen hinsichtlich einer der wichtigsten Empfehlungen Draghis, der verstärkten Ausgabe von Gemeinschaftsanleihen durch die EU im Namen ihrer Mitgliedstaaten. Diese Empfehlung zielt darauf ab, Investitionsprojekte zu fördern, die die Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit der Union erhöhen, und gleichzeitig einen tieferen und liquideren Pool von EU-Anleihen schaffen. Dies stößt seit langem auf Widerstand. Vor allem der ehemalige deutsche Finanzminister Christian Lindner hatte sich schon früh gegen den Draghi-Bericht ausgesprochen und gewarnt, dass die Zusammenlegung von „Risiken und Haftung demokratische und fiskalische Probleme schafft“.

Freisetzung von Kapital für Investitionen

Solche Bedenken bremsen die Entwicklung einer Kapitalmarktunion in der EU bereits seit geraumer Zeit. Seit dem Start einer Initiative im Jahr 2015 hat es in dieser Hinsicht kaum nennenswerte Fortschritte gegeben. Es ist jedoch höchste Zeit, dass die EU das fragmentierte Finanzsystem des Euroraums endlich entschlossener angeht. Wie der Draghi-Bericht deutlich macht, ist dies notwendig, um anderweitig vorhandenes Kapital verfügbar zu machen und die Fähigkeit der Region zu verbessern, in ihre Zukunft zu investieren.

Die ernüchternde Tatsache ist, dass die Produktionskapazität der Eurozone weiter erodieren und sie sowohl gegenüber den USA als auch gegenüber China immer weiter zurückfallen wird, wenn sie ihren derzeitigen Kurs der niedrigen Investitionen fortsetzt. Nach aktuellen Prognosen des IWF würde sich die Lücke zwischen dem BIP der EU und dem der USA bereits 2030 auf fast 40 Prozent und bis 2050 auf fast 60 Prozent vergrößern.

Nichtfinanzunternehmen in der EU beziehen nach wie vor rund 90 % ihrer Finanzmittel über Bankkredite. Da die Verbriefungsmärkte in ganz Europa durch die derzeitigen Vorschriften begrenzt sind, schränkt dies die Höhe der verfügbaren Finanzmittel in den verschiedenen Sektoren und in der Region ein. Zum Vergleich: In den USA machen Bankkredite rund 25 Prozent der Finanzierung aus, der Rest stammt von den Kapitalmärkten. Der europäische Verbriefungsmarkt hatte 2008 eine Größe von 85 Prozent seines US-amerikanischen Pendants. Als sich die Märkte dann auseinanderentwickelten, schrumpfte der europäische Markt auf 17 Prozent der Größe des US-Marktes.

Lange Zeit wurde die Sorge um die Aushöhlung der Souveränität als ein Problem angesehen, das die Zusammenführung der Kapitalmärkte behinderte. Dies muss jedoch vor dem Hintergrund des Status quo gesehen werden, in dem Unternehmen in den Mitgliedstaaten nur begrenzten Zugang zu inländischem Kapital haben - eine Situation, in der EU-Unternehmen auf die US-Kapitalmärkte angewiesen sind, um ihre Expansion zu finanzieren, und in der viele der innovativsten Start-ups in Europa ihre Zelte abbrechen und ins Ausland abwandern. Ebenso stellt sich die Frage, was es über Unabhängigkeit aussagt, wenn europäische Haushalte ihre Altersvorsorge im Ausland anlegen müssen, um überhaupt eine angemessene Rendite erwarten zu können.

Ein stärker integriertes Finanzsystem würde ein wettbewerbsfähigeres und attraktiveres Umfeld für alle Investoren bieten und damit die Selbstversorgung der EU mit Kapital verbessern.

Zwar haben manche die Befürchtung geäußert, dass sich ein Brand in einem Mitgliedstaat schnell auf andere Länder ausbreiten und so die Finanzstabilität in der gesamten Region gefährden könnte, wenn die Eurozone finanziell stärker vernetzt ist. Doch die Erfahrungen im Euroraum sollten diese Bedenken eigentlich zerstreuen. Die fehlende finanzielle Vernetzung während der europäischen Staatsschuldenkrise konnte nicht verhindern, dass die Banken in Irland, Spanien, den Niederlanden und Italien zeitgleich unter Druck gerieten und es in der Folge zu einer schweren Kreditklemme kam.

Es gibt keine evidenzbasierten Belege dafür, dass die Finanzstabilität durch mehr Integration geschwächt wird. Darüber hinaus scheinen Zentralbanken und politische Entscheidungsträger mit neuen Instrumenten in der Lage zu sein, eine Vielzahl von Stresssituationen zu bewältigen, einschließlich der Corona-Pandemie, des Energieschocks und des darauf folgenden starken Zinsanstiegs.

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