Intensivpatient gesetzliche Krankenversicherung
In den letzten Monaten wurde die Zukunft der gesetzlichen Rentenversicherung von den gewählten Volksvertretern in Berlin sehr engagiert und teilweise auch sehr polemisierend diskutiert. Während der Bundeskanzler die defizitäre Situation des Sozialversicherungsträgers weglächelt, fordert der Bundesfinanzminister eine von den Koalitionspartnern mit Nachdruck abgelehnte schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters.
Mit dem Modell eines aktienbasierten Generationenkapitals versucht die Regierung Öl auf die überschäumenden Wogen zu gießen und die finanzielle Sicherheit der gesetzlichen Rentenversicherung mantraartig zu beschwören. Bei all den Diskussionen über Wohl und Wehe der gesetzlichen Rentenversicherung kommt den anderen, gleichermaßen höchst brisanten Baustellen in der Sozialversicherung zurzeit nur die Rolle der Mauerblümchen zu.
„Nebenbaustelle“ gesetzliche Krankenversicherung
Als Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck im ausgehenden 19. Jahrhundert die sozialen Sicherungssysteme einführte, kam Deutschland eine Vorreiterrolle zu. Die Absicherung der arbeitenden Bevölkerung im Krankheits-, Invaliditäts- und im Todesfall, aber auch eine Sicherung geregelter Alterseinkünfte hatte sich der Reichskanzler auf die Fahnen geschrieben und damit eine wichtige sozialpolitische Weichenstellung vorgenommen. Ergänzend ist anzumerken, dass Bismarck bei der gesetzlichen Rentenversicherung auf eine Kapitaldeckung gesetzt hatte.
Nachdem die Altersgruppenverteilung der deutschen Bevölkerung zu Kaisers Zeiten dem Idealbild der Pyramide entsprach, waren die Voraussetzungen für eine nachhaltige Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung garantiert. Von dieser Altersstruktur ist die deutsche Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten immer weiter abgerückt. Eine dank guter Ernährung und medizinischer Versorgung auf hohem Niveau steigende Lebenserwartung und ein seit über 50 Jahren fortgeschriebener Geburtenunterschuss haben nicht nur eine Überalterung der Gesellschaft, sondern auch eine Überlastung aller sozialen Sicherungssysteme zur Folge.
Nicht nur die gesetzliche Renten-, sondern auch die gesetzliche Kranken- und die soziale Pflegeversicherung hängen als Intensivpatienten an finanziellen Dauerinfusionen aus dem Bundeshaushalt. Eine auf Nachhaltigkeit ausgelegte Reformstrategie, die den demografischen Verwerfungen in Deutschland Rechnung trägt, ist heute das Gebot der Stunde.
Reform der GKV oder Wunschdenken des Ministers?
Jeder Unternehmer kennt die tödliche Formulierung im Arbeitszeugnis eines Bewerbers. Sofern der frühere Arbeitgeber seinem ausgeschiedenen Mitarbeiter testiert hat, dass dieser „stets bemüht“ war, fallen die Chancen für eine Anstellung auf null. Auch die deutsche Bundesregierung vermittelt dem Bürger in vielen Fällen, dass politische Entscheidungen und Maßnahmen oftmals emotional und unausgegoren mithilfe eines Experimentierbaukastens getroffen beziehungsweise eingeleitet werden. Der Leser erinnert sich sicherlich noch an die Vorlage eines „Heizungsgesetzes“ im Hauruckverfahren.
Auch der Bundesgesundheitsminister zeigt einen ambitionierten Aktionismus. Allerdings ist nicht immer ersichtlich, in welche Richtung er das marode Schiff der gesetzlichen Krankenversicherung steuert. Wenn der Rumpf morsch, die Segel durchlöchert und die Mannschaft überaltert ist, dann sollte der Kapitän des Schiffes zumindest den Unterschied zwischen Steuer- und Backbord kennen und tunlichst waghalsige Wendemanöver und schnelle Kurswechsel vermeiden.
Fakt ist nun einmal, und jeder Unternehmer kann diese goldene Regel bestätigen, dass man zu hohe Ausgaben nur mit höheren Einnahmen und/oder restriktiven Sparmaßnahmen kompensieren kann. Auch der Bundesgesundheitsminister muss die Stellschraube der Ausgabenreduzierung drehen und mit der Streichung homöopathischer Leistungen aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkasse hatte Karl Lauterbach zumindest einen kleinen Schritt in Richtung einer finanziellen Konsolidierung des Gesundheitsfonds unternommen. Fair Play: Das Einsparpotenzial war mit rund 50 Millionen Euro vergleichsweise bescheiden, aber irgendwo muss man mit den Streichungen ansetzen. Die Empörung war groß: Eine Streichung der Kostenübernahme für Globuli und andere Homöopathika! Da kocht die Volks- und damit die Wählerseele hoch und so wurde in der logischen Konsequenz in der nächsten Fassung des Reformgesetzes die Streichung von Homöopathika gestrichen, will heißen: Homöopathische und anthroposophisch-medizinische Behandlungsmethoden stehen – zumindest aktuell – nicht mehr auf dem Einsparindex.
Mehr als 300 Milliarden Euro Gesundheitsausgaben
Inzwischen pfeifen es die Spatzen von den Dächern: Die Ausgaben im gesetzlichen Gesundheitswesen sind – was für eine Überraschung – auch im Jahr 2023 weiter gestiegen. Im vergangenen Jahr wurde die Kostenschallmauer von 300 Milliarden Euro erstmals erfolgreich durchbrochen und Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, vermeldete im Februar 2024 für das abgelaufene Jahr eine Finanzierungslücke von 17 Milliarden Euro. Nun lastet auf den gesetzlichen Krankenkassen nicht nur die Überalterung der deutschen Gesellschaft, sondern auch die medizinische Versorgung von Millionen Menschen, die aufgrund von Kriegsereignissen oder Verfolgung aus ihren Ländern in unsere Republik geflohen sind. Das hat nun wahrlich nichts mit rechts gefärbter Propaganda zu tun, sondern entspricht nun einmal der Faktenlage.
Der Bundesgesundheitsminister ist unstrittig guten Willens, das abgetakelte Schiff der gesetzlichen Krankenversicherung einer Generalsanierung zu unterziehen. Allerdings, und an dieser Stelle soll eine Lanze für den amtierenden Gesundheitsminister gebrochen werden, kommt die erforderliche Sanierung einer Don-Quijote-Aufgabe im Kampf gegen politische Windmühlenflügel gleich. Mit Blick auf Wählerumfragen gilt die Handlungsdevise: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.“
Reformieren wir die Reform?
Greifen wir zum Beispiel einmal die seit Langem thematisierte Krankenhausreform auf. Der Grundgedanke einer fachlichen Spezialisierung von insbesondere Universitäts- und kommunalen Großkliniken sowie der Übernahme der Grundversorgung durch dezentralisierte kleinere Krankenhäuser erscheint plausibel.
Eine Idee, die auch von vielen Vermittlern in der deutschen Versicherungswirtschaft sehr erfolgreich gelebt wird. Nicht jeder Vermittler kann in allen Sparten eine umfassende Fachkompetenz bieten und nicht jede Klinik in Deutschland kann und wird die optimalen Voraussetzungen für Herzchirurgie und den Einsatz von künstlichen Hüft- und Kniegelenken sichern. Mit einer Bündelung von fachlichen Kapazitäten und Ressourcen können Einspareffekte generiert werden.
Allerdings kocht die lauterbachsche Krankenhausreform nun schon seit Monaten auf dem politischen Herd in Berlin und eine zeitnahe Umsetzung liegt nach derzeitiger Einschätzung noch in weiter Ferne. Wie also soll es weitergehen? Eine zeitnahe und qualifizierte Beantwortung dieser Frage ist mit einem Blick in den Tragfähigkeitsbericht 2024 des Bundesministeriums der Finanzen wahrlich geboten. So beträgt nach diesem Bericht des BMF die voraussichtliche Ausgabenquote der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2025 7,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nach aktuellen Hochrechnungen wird sich diese Ausgabenquote bis 2070 auf 8,2 Prozent bis zehn Prozent erhöhen. Diese Steigerung der Ausgabenquote erscheint auf den ersten Blick moderat. Berücksichtigt man allerdings, dass sich das Bruttoinlandsprodukt im Zehnjahreszeitraum 2014 bis 2023 um 40,8 Prozent erhöht hat, so eröffnet dies die Dimension der voraussichtlichen Kostenentwicklung.
Lösungsansätze gefordert!
Konstatieren wir als erstes Zwischenergebnis, dass ein „Gut gemacht und weiter so“ sicherlich keine Lösung darstellt. Natürlich können wir in diesem Land lang geübten politischen Gepflogenheit folgen und das Problem so lange schönreden, bis eine vermeintliche Lösung passt. Allerdings sind über Jahrzehnte gewachsene Probleme auch mit politischen Drohgebärden nicht lösbar. So hatte der Bundesverkehrsminister beispielsweise mit Sonntagsfahrverboten gedroht, wenn die in seinem Sektor überzogenen CO2-Emissionen nicht mit den Einsparungen aus anderen Sektoren verrechnet werden.
Nun hat der Bundestag dieser Forderung nachgegeben und plötzlich haben wir wieder eine heile Welt, auch wenn die CO2-Emissionen im Verkehr noch immer viel zu hoch sind. Stellt sich somit die Frage, mit welchem Sektor oder Resort wir die Defizite der gesetzlichen Krankenversicherung verrechnen könnten. Sind die nicht alle defizitär?
Ein Lösungsvorschlag kommt aus dem Grenzgebiet zu unseren schweizerischen Nachbarn. Der Freiburger Ökonom Prof. Bernd Raffelhüschen befürwortet höhere Sozialversicherungsbeiträge für kinderlose Versicherte. Natürlich ließen empörte Reaktionen nicht lange auf sich warten. Allerdings, und hier muss man die Position von Prof. Raffelhüschen verteidigen, haben wir eine Bemessung des Beitragssatzes in Abhängigkeit von der Zahl der Kinder des Versicherten in der sozialen Pflegeversicherung bereits umgesetzt. So werden kinderlose Versicherte der sozialen Pflegeversicherung mit einem Beitragszuschlag von 0,6 Prozent abgestraft und Versicherte, die mit mindestens zwei Kindern zum Fortbestand der Bevölkerung beitragen, werden mit einem Beitragsnachlass von 0,25 Prozent/Kind für maximal vier Kinder belohnt.
Natürlich kann und wird es zu diesem Vorstoß von Prof. Raffelhüschen kontroverse Meinungen geben. Wenn wir allerdings jede Position und jeden schrittweisen Lösungsansatz im Vorfeld verwerfen, wird sich an der defizitären finanziellen Situation der gesetzlichen Krankenversicherung wie auch der anderen sozialen Sicherungssysteme nichts ändern.
Vertrauen auf den Ultrawumms?
Wie hatte es der Bundeskanzler einst so charmant formuliert? „Es muss ein Wumms durch dieses Land gehen!“ An dieser Stelle muss der Autor eingestehen, dass er einerseits nicht genau weiß, welche konkreten Maßnahmen und welche nachhaltigen Ergebnisse mit dem vom Bundeskanzler gebetsmühlenartig beschworenen Wumms verknüpft waren. Vielleicht ist hierin auch der Grund dafür zu suchen, dass Olaf Scholz nur wenige Zeit später auf den Doppelwumms setzte. Natürlich können wir auf die Macht der Worte vertrauen und bei der Sanierung der sozialen Sicherungssysteme unsere Hoffnung auf einen Ultrawumms setzen. Alternativ können wir uns alle auch an unsere Hausaufgaben setzen und praktikable Lösungen für eine Entlastung der gesetzlichen Krankenversicherung auf den Weg bringen.
Ein erster Schritt wäre aus Sicht des Autors, dass auch Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung einmal einen Überblick über die von ihnen verursachten Ausgaben erhalten. Muss es wirklich beim Medikamentenkauf in der Apotheke die Großpackung mit 100 Tabletten sein? Ist es wirklich erforderlich, dass man am Wochenende die Notaufnahme einer Universitätsaugenklinik wegen der Verordnung einer Sehhilfe besucht? Können wir nicht dem Gedanken der Beitragsrückerstattung in der PKV folgen und für Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung obligatorisch einen Beitragsbonus bei einer Nichtinanspruchnahme von Leistungen beziehungsweise eine Beschränkung von Leistungen auf Vorsorgeuntersuchungen ausloben?
Drei Säulen stützen die Finanzdecke besser …
Bei der nachhaltigen finanziellen Sanierung des deutschen Gesundheitswesens können und sollten wir auf das Drei-Säulen-Modell setzen. Die gesetzliche Krankenversicherung kann und sollte auch weiterhin eine medizinische Versorgung ohne Schnickschnack sicherstellen. Es liegt nun in der Entscheidung jedes Einzelnen, welches Upgrade für die medizinische Versorgung mit einem privaten Versicherungsvertrag aufgesattelt werden soll. Mit kostengünstigen Optionstarifen lässt sich die Entscheidung für das Wann und Wie auch unproblematisch hinausschieben. Auch die betriebliche Krankenversicherung kann einen wichtigen Beitrag zu einer nachhaltigen Stabilisierung des deutschen Gesundheitssystems leisten. Allerdings sollte der Leistungskatalog auch durch die Brille der Arbeitgeber bewertet werden. Unstrittig ist, dass wir nicht weiter zuwarten können. Diskussionen sind wichtig, aber qualifizierte Entscheidungen müssen jetzt folgen.
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