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Die Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) wird vielfach missbraucht, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Mitbestimmungsrechte vorzuenthalten. In ihrem Koalitionsvertrag hat die "Ampel" vereinbart, gegen die Mitbestimmungsvermeidung bei der SE vorzugehen. Ein neues Gutachten zeigt, was die Politik durch nationale Gesetzgebung konkret dagegen tun kann.
Die Untersuchung von Prof. Dr. Rüdiger Krause von der Universität Göttingen zeigt auch, dass die neuere europäische Rechtsentwicklung eine Reform erleichtert. Eine solche Reform könnte auch für bereits bestehende SEs ohne Mitbestimmung greifen, so die Expertise des Rechtswissenschaftlers. 1
Beschäftigten in Deutschland steht das Recht zu, in den Aufsichtsräten großer Unternehmen mitzuwirken. Oft wird dieses Recht allerdings ausgehebelt – und ein wichtiges Vehikel dafür ist die SE: Wenn wachsende Unternehmen diese Rechtsform annehmen, können sie in Sachen Mitbestimmung einen Status Quo mit geringer oder sogar ohne Arbeitnehmerbeteiligung festschreiben. Dann bleibt alles beim Alten, auch wenn die Belegschaft 500 beziehungsweise 2000 Beschäftigte überschreitet und eigentlich die Voraussetzungen für die Einführung der Drittelbeteiligung oder der paritätischen Mitbestimmung erfüllt wären.
Tatsächlich besitzen mehr als 80 Prozent der großen SEs in Deutschland keinen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat, darunter auch die im DAX notierten Konzerne Vonovia und Zalando. Auffällig viele Familienunternehmen vermeiden die Mitbestimmung mit Hilfe der SE als Rechtsform.
Gegen den "Einfriereffekt"
In seinem Gutachten für das Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung analysiert Professor Krause, was sich gegen diesen "Einfriereffekt" gesetzlich ausrichten lässt. Ein zentrales Ergebnis: Bessere Regelungen durch den deutschen Gesetzgeber sind möglich und nötig, ein weiteres Warten auf ungewisse Abhilfe aus Europa ist keine Alternative. Der deutsche Gesetzgeber hat demnach unter anderem die Möglichkeit, SE-Gründungen als missbräuchlich zu qualifizieren, wenn innerhalb von vier Jahren nach der Gründung ein für die Mitbestimmung relevanter Schwellenwert überschritten wird.
Das deutsche SE-Beteiligungsgesetz enthalte zwar schon jetzt Möglichkeiten gegen die Umgehung von Mitbestimmung, die praktisch aber von geringer Bedeutung sind, erklärt Krause. So sei vorgesehen, dass die Arbeitnehmerseite neue Verhandlungen über Beteiligungsrechte verlangen kann, wenn es zu einer "nachträglichen strukturellen Änderung" kommt. Nach herrschender Meinung sei das bloße Wachstum der Belegschaft dafür aber nicht ausreichend. Zudem würde als Auffanglösung bei den Verhandlungen wiederum der Status quo dienen.
Auch das Missbrauchsverbot im SE-Beteiligungsgesetz sei in seiner jetzigen Form ein stumpfes Schwert. Ein Missbrauch werde nur vermutet, wenn innerhalb eines Jahres nach der SE-Gründung eine strukturelle Änderung stattfindet. Zusätzlich brauche es ein "subjektives Element", also den Nachweis, dass das Einfrieren von Mitbestimmungsrechten das Motiv für die Gründung war. Selbst wenn dieser Nachweis gelinge, seien die Rechtsfolgen zudem diffus.
Spielräume beim Missbrauchsverbot nutzen
Wenn die Regierungsparteien das Problem angehen wollen - wozu sie sich im Koalitionsvertrag verpflichtet haben, müssen sie sich am Rechtsrahmen orientieren, den die SE-Richtlinie der EU vorgibt, so der Jurist. Für wenig zielführend hält er es dabei, am Kriterium der strukturellen Veränderung anzuknüpfen. Denn hier komme man am "Vorher-Nachher-Prinzip" nicht vorbei. Dass die bestehenden Beteiligungsrechte in diesem Fall die Basis von Neuverhandlungen darstellen, lasse sich also nicht ändern.
Sinnvoller wäre es laut dem Gutachten, die Spielräume beim Missbrauchsverbot auszunutzen. Im Kern stelle sich dabei die Frage, was der Zweck der SE-Richtlinie zur Arbeitnehmerbeteiligung ist: "Würde der erklärte Wille des europäischen Gesetzgebers darin bestehen, Unternehmen zu ermöglichen, sich dem nationalen Mitbestimmungsrecht zu entziehen und die Mitbestimmung in den EU-Ländern sukzessive austrocknen zu lassen, dann wäre eine entsprechende Vorgehensweise nicht missbräuchlich und ließe sich nicht eindämmen. Ansonsten besteht Raum für die Bewertung einer solchen Strategie als zweckwidrig und damit rechtsmissbräuchlich."
Europäische Gesetzgeber hat den "Einfriereffekt" als Problem erkannt
In den Erwägungsgründen zur Richtlinie sei indes deutlich zu lesen, dass eine SE-Gründung gerade nicht zur Beseitigung oder Einschränkung der nationalen Gepflogenheiten der Arbeitnehmerbeteiligung führen dürfe, so der Experte. Zudem werde als Missbrauch nicht nur die "Entziehung", sondern auch die "Vorenthaltung" von Beteiligungsrechten bezeichnet. Das lege nahe, auch an solche Rechte zu denken, die nicht schon existieren, sondern als Folge einer SE-Gründung von vornherein unter den Tisch fallen.
Für eine entsprechend weite Auslegung des Missbrauchsbegriffs spricht Krause zufolge insbesondere die neue EU-Umwandlungsrichtlinie, die grenzüberschreitende Verschmelzungen regelt. Diese lasse eine "deutlich stärkere Tendenz des europäischen Gesetzgebers erkennen, Arbeitnehmerschutz zu stärken sowie gegen Missbräuche und Umgehungen vorzugehen". Es zeige sich, dass die EU den Einfriereffekt mittlerweile klar als Problem erkannt habe. Diese Entwicklung müsse bei einer um Kohärenz bemühten Auslegung der SE-Richtlinie berücksichtigt werden.
Der Gutachter empfiehlt eine Konkretisierung des SE-Beteiligungsgesetzes, die die strategische Nutzung des Einfriereffekts als Rechtsmissbrauch erfasst. Missbrauch läge demnach vor, wenn zumindest eines der hauptsächlichen Motive für eine SE-Gründung darin besteht, Mitbestimmungsrechte einzufrieren. Ein Missbrauch solle vermutet werden, wenn ein relevanter Schwellenwert innerhalb von vier Jahren ab der SE-Gründung überschritten wird. Selbst eine "gesetzliche Missbrauchsfiktion", die Gegeneinwände ausschließt, läge noch im Rahmen des rechtlich Zulässigen.
Neuverhandlungen mit einer Auffanglösung
Nach Ablauf von vier Jahren würde dieser Automatismus zwar nicht mehr greifen. Aber auch, wenn der Schwellenwert erst später erreicht wird, könne ein Missbrauch noch vorliegen. Das Gesetz könne hierfür Anhaltspunkte nennen. Zu denken wäre etwa daran, dass Beschäftigung und Wertschöpfung im Wesentlichen auf Deutschland beschränkt sind, also keine nennenswerten Binnenmarktaktivitäten als Anlass für die Gründung der SE entfaltet werden.
Nach Analyse des I.M.U. trifft das aktuell auf etwa jede dritte SE zu, die mehr als 2000 Beschäftigte hat, aber keine paritätische Mitbestimmung. Auch wenn die Belegschaftsgröße innerhalb der Vierjahresfrist konstant mindestens vier Fünftel des maßgeblichen Schwellenwerts beträgt und diesen Wert erst danach überschreitet, ohne dass eine relevante Wertschöpfung im Ausland erfolgt, spreche dies für einen Missbrauch.
Als Rechtsfolge des Missbrauchs schlägt der Jurist Neuverhandlungen mit einer Auffanglösung vor, die sich an der dann aktuellen Größe der Belegschaft orientiert. So könnte das Mitbestimmungsniveau mit der Unternehmensgröße zunehmen. Das neue Gesetz auch auf bereits gegründete SE wie zum Beispiel die Vonovia SE anzuwenden, würde nach Krauses Einschätzung keine unzulässige Rückwirkung darstellen.
Anmerkung:
1 Rüdiger Krause: Eindämmung des "Einfriereffekts" bei der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) - Rechtliche Zulässigkeit gesetzlicher Maßnahmen bei SE und grenzüberschreitenden Verschmelzung, Mitbestimmungsreport des I.M.U. Nr. 77, Oktober 2023. Download: https://www.imu-boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-008703