Gesetzliche Beschränkung auf den Rückkaufswert bei Widerruf von LV ist EU-rechtswidrig
Der EuGH entschied (Urteil vom 19. Dezember 2019, Az. C355/18, C-357/18, C-479/18), dass eine Regelung im Versicherungsvertragsrecht, wonach der Versicherungsnehmer (VN) beim Widerruf oder Rücktritt lediglich auch nur den Rückkaufswert genau wie bei einer Kündigung erhält, gegen höherrangiges EU-Recht verstößt.
Keine Beschränkung auf den Rückkaufswert nach falscher oder unterbliebener Widerrufsbelehrung
Der Gesetzgeber hatte diese nun nach 12 Jahren als unionsrechtswidrig beurteilte Beschränkung betreffend Lebensversicherungen ab dem zweiten Vertragsjahr, bei der VVG-Reform 2008 genau deshalb in das Versicherungsvertragsgesetz (VVG) eingeführt, weil die Vorgängerregelung aus 1994 mit ihrer absoluten Befristung des Widerrufs auf ein Jahr nach Versicherungsbeginn auch schon – mehr als 10 Jahre nach ihrer Einführung – sich als EU-rechtswidrig erwiesen hatte.
Aus dem neuen Urteil:
"Soweit § ... VersVG in der für die Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung für den Rücktritt und die Kündigung des Vertrags dieselben rechtlichen Wirkungen vorsieht, nimmt er dem unionsrechtlich vorgesehenen Rücktrittsrecht somit jegliche praktische Wirksamkeit. ...
… Somit ist auf die vierte Frage in der Rechtssache C-479/18 zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619, Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 und Art. 185 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Versicherer einem Versicherungsnehmer, der von seinem Vertrag zurückgetreten ist, lediglich den Rückkaufswert zu erstatten hat."
Besonderheit bei Verbrauchern als Versicherungsnehmer
Der Versicherer (VR) hat zahlreiche Informationspflichten. Verbraucher müssen seit 01.07.2008 auch ein Produktinformationsblatt bekommen, welches dann zu den für den Beginn der Widerrufsfrist relevanten Unterlagen gehört, § 4 ProdInfo-VO. Bei Nichtverbrauchern gilt § 1 dieser Verordnung.
Wann der Bundesgerichtshof das EuGH-Urteil umsetzt, steht noch nicht fest. Absehbar kommt es dann auch hier zur Rückabwicklung nach Bereicherungsrecht – so wie bereits für alle betroffenen Verträge aus der Zeit bis vor Inkrafttreten des VVG2008. Also zur Verpflichtung des VR dem VN auch neben den vollen Beiträgen ohne Risikokosten die von ihm gezogenen Nutzungen herauszugeben, § 818 BGB.
Verwirkung statt Verjährung
Dem Widerruf kann die Verwirkung entgegenstehen – weil der Versicherer sich aufgrund des Verhaltens darauf eingerichtet hat, dass der VN den Vertrag unbedingt behalten will. Vereinzelt genügt Gerichten, wenn der VN bei dynamisierten Verträgen Dynamiken widersprochen hat, oder auch sie ohne Widerspruch akzeptiert hat. Oder stets die Beiträge pünktlich gezahlt hat – erst recht aber, wenn er nach Zahlungsaussetzung damit wieder begonnen hat. Also jedes Lebenszeichen des VN, jedes Tun oder Unterlassen zeigt manchem Gericht, dass der VN den Vertrag unbedingt durchführen will und damit sein Widerrufsrecht verwirkt hat.
Nicht alle Gerichte legen so „strenge“ Maßstäbe an wie bei Widerruf nach Vertragskündigung des VN im zeitlichen Abstand vieler Jahre nach Erhalt eines bereits höheren Rückkaufswerts als den gezahlten Beiträgen „offensichtliches Ziel des Widerspruchs eine bloße Renditeerhöhung ist“ (OLG München, Urteil vom 31.08.2018, Az. 25 U 607/18). Der BGH verlangt bisher strengere Anforderungen, so für Rechtsmissbrauch beispielsweise „arglistiges oder schikanöses Verhalten“ (BGH, Urteil vom 16.03.2016, Az. VIII ZR 146/15) – seine Rechtsprechung kann sich aber ja noch fortbilden.
Haftpflichtversicherungen und andere Nichtlebensversicherungen
Diesbezüglich galt bis Ende 2007 die Regel, dass das Widerrufrecht bei unzureichender Belehrung ein Jahr nach (erster) Prämienzahlung erlischt, § 5a II 4 VVG a.F. Ab 2008 hat der Gesetzgeber dies zugunsten aller Versicherungsnehmer verbessert, weil das Widerrufsrecht dann nicht mehr durch Zeitablauf erlischt: Zu erstatten sind vorausbezahlte Prämien, seit dem Widerruf; sowie eine Jahresprämie, § 9 I 2 VVG, falls noch kein Leistungsfall eingetreten ist.
Listige VN könnten bei gegebenen Voraussetzungen versuchen erst umzudecken (also den VR zu wechseln), um sodann zu widerrufen.
Widerruf über Rechtsschutzversicherung (RSV) finanzieren?
Wer einen jüngeren RSV-Vertrag hat, wird in den Versicherungsbedingungen (ARB) den Widerruf von Versicherungsverträgen faktisch als von der Deckung ausgeschlossen finden, eventuell auch nur bei Lebensversicherungen. Aber auch wenn die RSV eintrittspflichtig wäre, muss mit zusätzlichen eigenen Kosten des VN gerechnet werden – insbesondere wegen hohem Zeitaufwand und versicherungsmathematisch-sachverständiger Vorbereitung und Prozessbegleitung durch einen Aktuar.
Insolvenzrisiko durch Widerruf – bei betrieblicher Altersversorgung oder Bezugsrecht
Wird bei einer Lebensversicherung jemand durch – auch unwiderrufliches - Bezugsrecht begünstigt, so fällt die Begünstigung durch den Widerruf fort – Auszahlungen könnten somit noch nach Jahrzehnten zu erstatten sein. Dabei ist es wirklich Pech für den VR, wenn er die Leistung bei einer Lebensversicherung, die noch widerruflich ist, bereits einem anderen Begünstigten ausbezahlte – dann droht eine Doppelzahlung.
So könnten dann etwa die Erben die vollen Beiträge zuzüglich der Nutzungen abzüglich der Risikokosten bei Widerruf vom VR verlangen; und der Versicherer müsste sich selbst an den unwiderruflich oder widerruflich Begünstigten wenden, um von ihm den vor vielen Jahren gezahlten Rückkaufswert (RKW) oder die Todesfallleistung zurückzuverlangen.
Gerät ein Arbeitgeber in Insolvenz, wird der Konkursverwalter durch Widerruf bestrebt sein, die Insolvenzmasse zu mehren: Urplötzlich soll der Betriebsrentner die Rentenzahlungen erstatten – laufende Renten werden schlicht eingestellt. Direktversicherungen werden nach Widerruf nicht mehr ausgezahlt. Der Betriebsrentner kann seine Ansprüche gegen den Arbeitgeber zur Insolvenzquote anmelden – den Pensionssicherungsverein interessiert es indes gar nicht.
Daneben gibt es auch bei Nichtarbeitnehmern die Möglichkeit nach dem Anfechtungsgesetz oder der Insolvenzordnung die Auszahlung des VR anzufechten – sogar ganz ohne Widerruf versteht sich.
Dass jede Abtretung, Verpfändung und jedes auch unwiderrufliche Bezugsrecht durch Widerruf mit dem Vertrag beseitigt wird und viele Banken daher wertlose Sicherheiten haben, ist nur Fachleuten bewusst. Dass sie gegebenenfalls den Erlös aus bereits verwerteten Sicherheiten in Form von RKWn zurückzahlen müssen, kommt dann dazu. Bei einer nachfolgenden Insolvenz wird der Insolvenzverwalter solche Lebensversicherungen oft noch widerrufen können und dabei versuchen können, sich beim Erlös nicht den an andere Personen ausgezahlten RKW gegenrechnen zu lassen.
Von Dr. Johannes Fiala, PhD, RA, RB, MBA Finanzdienstleistungen (Univ.), MM (Univ.), Geprüfter Finanz- und Anlageberater (A.F.A.), Bankkaufmann (www.fiala.de) und
Dipl.-Math. Peter A. Schramm, Sachverständiger für Versicherungsmathematik, Aktuar DAV, öffentlich bestellt und vereidigt von der IHK Frankfurt am Main für Versicherungsmathematik in der privaten Krankenversicherung (www.pkv-gutachter.de).
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