Zaudern bei der Rentenreform gefährdet künftigen Wohlstand

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Die gesetzliche Rente steht vor erheblichen Herausforderungen und die Menschen in Deutschland sind sich der misslichen Lage offensichtlich bewusst. Denn unsere empirischen Befragungen zeigen über die letzten Jahre hinweg einen starken Vertrauensschwund in die gesetzliche Rente. Unterschätzt die Politik die Reformbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger?

Ein Kommentar zur Zukunft der gesetzlichen Rente von Prof. Dr. Michael Heuser, Wissenschaftlicher Direktor des DIVA Frankfurt

Auch die Ampel-Regierung tut wie ihre Vorgänger nahezu nichts dafür, den drohenden Kollaps des Umlageverfahrens abzuwenden. Leitragende werden am Ende die Kinder und Enkel der geburtenstarken Jahrgänge sein, die die Kosten überbordender Sozialleistungen tragen müssen.

Prof. Dr. Michael Heuser, Wissenschaftlicher Direktor, DIVA – Deutsches Institut für Vermögensbildung und Alterssicherung

Wissenschaft und Experten sind sich einig: Das Umlageverfahren der gesetzlichen Rentenversicherung wird ohne einschneidende Anpassungen der wesentlichen Stellschrauben schon sehr bald nicht mehr funktionieren. Bereits heute klafft eine 100 Mrd. Euro-Lücke zwischen benötigten Rentenmitteln und Beitragseinnahmen. Der anstehende Renteneintritt der Babyboomer, eine steigende Lebenserwartung und die seit Jahrzehnten niedrige Geburtenrate öffnen diese Schere weiter; immer weniger Erwerbstätige müssen als Beitrags- und Steuerzahler für immer mehr Rentner als Leistungsempfänger aufkommen.

In der Bevölkerung gibt es für diese Entwicklung offensichtlich ein ausgeprägtes Bewusstsein, das durch die aktuellen geopolitischen Verwerfungen und Unsicherheiten noch verstärkt wird. Der Deutsche Altersvorsorge-Index DIVAX-AV, das vom DIVA halbjährlich veröffentlichte Stimmungsbarometer zur Altersvorsorge in Deutschland, sinkt seit zwei Jahren kontinuierlich. Selbst im ersten Corona-Jahr noch mit positivem Wert, drehte er im Herbst 2021 in den negativen Bereich und hat sich dort mittlerweile hartnäckig festgesetzt. Besonders negativ wird dabei die gesetzliche Rente bewertet – im Herbst 2022 haben 61 Prozent der Befragten die Sorge, dass sich deren Versorgungsniveau weiter verschlechtern wird. 

Politik setzt weiter auf überholte Rentenarithmetik

Schon die Vorgänger der Ampelkoalition haben es versäumt, Antworten auf die Frage der absehbaren Finanzierunglücken in den sozialen Sicherungssystemen, allen voran in der gesetzlichen Rentenversicherung, zu finden. Die aktuelle Regierung setzt diesen fatalen Kurs fort. Dies wiegt umso schwerer, als die demografiebedingten Grenzen des Umlageverfahrens von der Wissenschaft seit Jahrzehnten prognostiziert und an die Politik adressiert werden.

Geschehen ist das Gegenteil dessen, was notwendig wäre: Mit der abschlagsfreien Rente mit 63, der Mütterrente und dem Aussetzen des Demografiefaktors wurde der demografische Druck auf die zukünftige Ausgabenlast für gesetzliche Renten weiter erhöht. Die Ampel-Koalition hält an der überholten Formel fest, indem sie Beitragssatz, Renteneintrittsalter und Rentenniveau für die laufende Legislaturperiode festschreibt und damit die maßgeblichen Stellschrauben aus der Hand gibt.

Den Ausgleich zwischen schrumpfenden Einnahmen und wachsenden Rentenzahlungen müssen deshalb schnell anwachsende Steuerzuschüsse richten. Experten warnen, dass ein „Weiter-wie-bisher“ dazu führen wird, dass in Zukunft bis zur Hälfte des Bundeshaushalts für die gesetzliche Rente beansprucht wird. Das führt geradewegs in den „steinernen Haushalt“ ohne Freiraum für jegliche dringend notwendige Zukunftsinvestitionen.

Lange setzten politische Entscheidungsträger ihre Hoffnungen und ihre Rentenberechnungen darauf, dass eine dauerhaft brummende Konjunktur, technologischer Fortschritt, die Zuwanderung junger Erwerbstätiger und die Erschließung von Erwerbstätigkeitspotentialen vor allem bei Frauen die Beiträge sprudeln lassen und Steuerzuschüsse alimentieren würden. Wie brüchig solche Hoffnungen sind, zeigen die aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen.

Heilsbringer Aktienrente?

Originell und ein Lichtblick ist die Idee der Regierungspartei FDP, das Umlageverfahren durch reichlich sprudelnde Kapitalmarktrenditen zu stützen, die aus der Anlage eines Kapitalstocks an den Aktienmärkten resultieren. Nach aktuellen Informationen sollen dazu für den Start im Jahr 2023 für 10 Milliarden Euro Bundesanleihen begeben und über den Haushalt als Startkapital zur Verfügung gestellt werden. Der Bund erwirbt im Gegenzug eine Forderung gegenüber dem Kapitalstock. So lässt sich die Anrechnung der Mittel auf die Schuldenbremse umgehen. Zusätzlich wird die Möglichkeit geschaffen, Bundesvermögen wie zum Beispiel Unternehmensbeteiligungen einzubringen.

Doch die Tücke steckt im Detail. Die Idee kommt nicht nur viel zu spät. Für nennenswerte Entlastungseffekte sind auch ein Kapitalstock von mehreren 100 Milliarden Euro und signifikante Kapitalmarktrenditen erforderlich. Letztere müssten deutlich über den Zinsen für Bundesanleihen liegen, denn nur die Differenz steht für eine Finanzierung der Renten zur Verfügung.

Erhebliche Zweifel sind angebracht, denn die Refinanzierungskosten des Bundes dürften wieder deutlich zunehmen. Die Zinssätze steigen nämlich inflationsbedingt zügig an. Und die derzeit dynamisch anwachsenden Staatsschulden werden die Bonität des Bundes verschlechtern und damit die Refinanzierung zusätzlich verteuern. Problematisch aus unserer Sicht auch: Wenn der Bund Forderungen gegen den Kapitalstock hat, kann er sie bei Finanzierungsengpässen in anderen Bereichen geltend machen und dem Kapitalstock so seine Mittel wieder entziehen.

Jeder sich selbst der Nächste?

Wie unsere Umfragen zeigen, ahnen die Bürger, dass die Rente entgegen allen früheren Aussagen eben nicht sicher ist. Geht es aber konkret darum, wie die sich abzeichnende teure Rechnung zu bezahlen ist, ist sich jeder selbst der Nächste. Dies zeigt die jüngste Umfrage zum Altersvorsorge-Index DIVAX-AV vom Herbst 2022. Nach bevorzugten Lösungen zur Stabilisierung der gesetzlichen Rente gefragt, setzen auch die Bürger auf das „Weiter-wie-bisher“.

Die meisten Befragten wollen weder steigende Beitragssätze noch ein sinkendes Rentenniveau noch ein höheres Renteneintrittsalter. Favorit sind steigende Bundeszuschüsse zum Auffüllen der Rentenkasse – ob finanziert durch Einsparungen in anderen Bereichen, durch zusätzliche Staatsschulden oder durch Steuererhöhungen. Wenn die Politik sich also zuerst um Wählerstimmen und erst danach um die Lösung eines der größten aktuellen Probleme kümmert, macht sie alles richtig. Dass all dies von den Erwerbstätigen und den Unternehmen, die zugleich Beitrags- und Steuerzahler sind, erwirtschaftet werden muss, scheint völlig aus dem Blick zu geraten.

Unser Ansatz: Ein konzertiertes Maßnahmenpaket

Wie könnte also ein Lösungsansatz aussehen? Der Kapitalstock für die Aktienrente sollte wesentlich schneller befüllt werden. Das Rentenniveau sollte wieder weniger schnell zunehmen als die Löhne – das hilft langfristig, die Schere zwischen rückläufigen Beitragseinnahmen und steigenden Rentenzahlungen zu schließen. Der Beitragssatz sollte weitgehend stabil gehalten werden, um die ohnehin schon hohe Abgabenlast in Deutschland nicht weiter zu erhöhen. Das Renteneintrittsalter sollte an die Lebenserwartung gekoppelt werden, mit Auffangnetzen für diejenigen, die gesundheitsbedingt nicht mehr arbeiten können.

Alle Reserven auf dem Arbeitsmarkt müssen erschlossen werden. Zuwanderung muss besser gesteuert werden. Und junge Familien müssen bessere Rahmenbedingungen fürs Kinderkriegen bekommen. Die beste Rentenpolitik für zukünftige Generationen ist nämlich gute Familienpolitik mit ihren Wechselwirkungen in fast alle anderen Bereiche der Politik.

Genauso wichtig aber: Eigenverantwortliche private Altersvorsorge muss belohnt werden. Das Riester-Sparen muss endlich aus dem Korsett der Bruttobeitragsgarantie befreit werden. Altersvorsorge über Fondssparpläne sollte mit höheren Freibeträgen für Kursgewinne und Dividenden steuerlich gefördert werden.

Schließlich: Altersvorsorge mittels Wohneigentum können sich Bürger ohne größere Erbschaften fast nicht mehr leisten. Die Politik könnte hier helfen, indem hohe Nebenkosten des Erwerbs wie die Grunderwerbssteuer endlich reformiert und kostenintensive Auflagen überdacht werden.

Dringend geboten ist nach unserer Auffassung also ein kohärentes Bündel sinnvoller Einzelmaßnahmen, die alle zusammen eine Überforderung der künftigen Erwerbstätigen mit Steuer- und Sozialversicherungsabgaben in Grenzen halten.

Anders als in der Vergangenheit dürfen die Vorschläge einer dafür einzurichtenden Expertenkommission nicht wieder in der Schublade verschwinden, sondern müssen in schnelles politisches Handeln münden. Dazu müsste die Thematik zur Chefsache des Kanzlers erklärt, dort geführt und verantwortet und so von vornherein allen parteiideologischen Diskussionen der beteiligten Ministerien entzogen werden.

Bild (2): © DIVA – Deutsches Institut für Vermögensbildung und Alterssicherung