Noch vor wenigen Monaten galt es als wirtschaftspolitisch undenkbar – jetzt könnte es Realität werden: Die Schweizerische Nationalbank (SNB) steht kurz davor, ihren Leitzins wieder auf 0,00 % zu senken. Damit würde ein symbolträchtiger Schritt vollzogen, der die geldpolitische Wende vorbereitet – und in den kommenden Monaten durchaus den Weg zurück in negatives Terrain ebnen könnte. Ein Schritt, der zeigt, wie fragil das Gleichgewicht zwischen Währungsstabilität, Kapitalflüssen und Inflationsbekämpfung geworden ist.
Preisrutsch und Frankenstärke als Auslöser
Der unmittelbare Auslöser: Die Verbraucherpreise in der Schweiz sind im Mai 2025 erstmals seit vier Jahren ins Negative gerutscht (−0,1 %). Gleichzeitig hat der Franken seit Frühjahr gegenüber dem US-Dollar um mehr als zehn Prozent zugelegt. Diese Kombination erhöht den deflationären Druck – ein gefährliches Signal für eine exportorientierte Volkswirtschaft.
Getrieben wird diese Entwicklung durch globale Kapitalverschiebungen: Die USA erleben unter Donald Trump eine neue politische Vertrauenskrise. Investoren ziehen sich aus Dollar-Anlagen zurück – der sichere Hafen Schweiz profitiert. Doch was den Franken stärkt, schwächt die Konjunktur. Exporte werden teurer, Importe billiger. Die geldpolitische Reaktion lässt nicht auf sich warten.
Wie ernst die Situation eingeschätzt wird, zeigt die jüngste Aussage von SNB-Präsident Martin Schlegel beim Swiss Media Forum in Luzern:
„Wenn die Situation so ist, dass Negativzinsen notwendig sind, dann machen wir das.“
Damit bekräftigt Schlegel, dass die SNB geldpolitisch flexibel agieren werde – auch mit Instrumenten, die nach der Ära unorthodoxer Geldpolitik eigentlich ad acta gelegt schienen.
Zunächst jedoch erwarten Analysten einen Schritt auf 0,00 % – ein vorsichtiges Signal, das weitere Lockerungen in Aussicht stellt. Eine Bloomberg-Umfrage unter Ökonom:innen ergibt ein klares Bild: Die große Mehrheit geht von einer Zinssenkung auf null aus. Eine tatsächliche Rückkehr ins negative Zinsumfeld wird erst bei weiterem deflationären Druck für wahrscheinlich gehalten.
Ein solcher Schritt wäre geldpolitisch kein Novum. Zwischen 2015 und 2022 steuerte die SNB mit einem Negativzinsregime erfolgreich gegen Aufwertungsdruck und Kapitalüberhitzung. Das Instrument ist erprobt – und bleibt offenbar Teil des geldpolitischen Werkzeugkastens.
Blick nach Frankfurt: Die EZB ist als Nächste am Zug
Die geldpolitische Debatte endet nicht in Zürich. Bereits am 24. Juli 2025 tritt der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) zur nächsten Zinssitzung zusammen.
Bisher hält die EZB am Einlagensatz von 2,0 % fest – ein deutliches Zeichen geldpolitischer Distanz zur Schweizer Linie. Doch die strukturellen Parallelen sind offenkundig: Auch der Euro hat gegenüber dem Dollar seit Frühjahr deutlich aufgewertet, Kapitalflüsse aus den USA haben zugenommen, und die Inflation schwächt sich ab.
Sollte die SNB am 19. Juni vorlegen, könnte die EZB zum Handeln gezwungen sein – nicht sofort, aber in der geldpolitischen Kommunikation. Beobachter erwarten bereits, dass Präsidentin Christine Lagarde Signale für eine flexiblere Haltung geben könnte. Die Sitzung am 24. Juli dürfte damit mehr als ein Routineentscheid werden: Sie wird ein Stimmungsbarometer für die geldpolitische Zukunft Europas.
Was wie eine Kehrtwende aussieht, ist wirtschaftspolitische Kontinuität
Die Rückkehr zu einem Nullzins – und womöglich bald zu Negativzinsen – wäre kein Rückfall in die Krise, sondern Ausdruck einer geldpolitischen Logik, die in Zeiten globaler Instabilität erneut gefordert ist. Die SNB zeigt damit nicht Schwäche, sondern Reaktionsfähigkeit – auch wenn der Preis ein erneutes Experiment mit den Grenzen konventioneller Geldpolitik ist.
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