Was versteht man unter Pflegebedürftigkeit?

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Nach den Leistungsstatistiken des Bundesministeriums für Gesundheit und des Verbands der Privaten Krankenversicherung e. V. erhielten im Jahr 2020 etwa 4,32 Millionen Versicherte Leistungen der sozialen und circa 273.000 versicherte Personen Leistungen der privaten Pflegepflichtversicherung. Voraussetzung für einen Leistungsbezug, und dies gilt gleichermaßen für private Vorsorgeverträge, ist dabei eine bedingungsgemäße Pflegebedürftigkeit des Versicherten beziehungsweise der versicherten Person. Dies wirft die Frage auf, wie der Begriff einer (leistungspflichtigen) Pflegebedürftigkeit definiert wird.

Ein Beitrag von Alexander Schrehardt, Gesellschafter-Geschäftsführer, AssekuranZoom GbR

Alexander Schrehardt, Gesellschafter-Geschäftsführer, AssekuranZoom GbR

Ein Blick in das Sozialgesetzbuch XI und in die Versicherungsbedingungen der Kranken- und Lebensversicherer sorgt sehr schnell für Ernüchterung, da der Begriff der Pflegebedürftigkeit im Sozial- beziehungsweise im Zivilrecht eine teilweise höchst unterschiedliche Auslegung erfährt.

Auch die Leistungsvoraussetzungen im Versicherungsfall sind – zumindest bei den Gesellschaften der privaten Versicherungswirtschaft – in vielen Fällen sehr unterschiedlich geregelt.

So ist ein kritischer Blick in die AVB vor Abschluss eines privaten Vorsorgevertrages mit Nachdruck anzuraten.

Der Begriff der Pflegebedürftigkeit im Sozialgesetz

Für Versicherte der sozialen und privaten Pflegepflichtversicherung hat der Gesetzgeber den Begriff der Pflegebedürftigkeit in § 14 SGB XI mit Wirkung zum 1. Januar 2017 wie folgt definiert: Eine Pflegebedürftigkeit ist gegeben, wenn der Versicherte für eine Dauer von mindestens sechs Monaten aufgrund gesundheitlich bedingter Beeinträchtigungen seiner Selbstständigkeit oder Fähigkeiten der Hilfe anderer Personen bedarf.

Bis Ende 2016 wurde die Pflegestufe eines Versicherten auf der Grundlage der Häufigkeit und des zeitlichen Aufwands der pflegerischen Versorgung ermittelt. Mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz hatte der Gesetzgeber zum 1. Januar 2017 nicht nur die Abkehr von den bisherigen Pflegestufen zugunsten der neuen Pflegegrade erklärt, sondern auch eine neue Bewertungsgrundlage für die Prüfung und Einstufung der Pflegebedürftigkeit der Versicherten eingeführt. Die Prüfung und Beurteilung der Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten stellt dabei auf folgende Kriterien ab:

  • die Mobilität des Versicherten
  • die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten
  • die Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen
  • die Selbstversorgung im Alltag
  • die Bewältigung von und der selbstständige Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen
  • die Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte

Mithilfe eines umfangreichen Fragenkatalogs und basierend auf einem Punktesystem ermitteln der Medizinische Dienst der Krankenkassen, der Sozialmedizinische Dienst der Knappschaften sowie die Dienstleister der privaten Krankenversicherer für jeden dieser sechs Bereiche Einschränkungen und Defizite des Versicherten. Die für die einzelnen Bereiche ermittelten Punktwerte erfahren dabei noch eine unterschiedliche Gewichtung und der abschließend ermittelte Gesamtpunktwert bestimmt dann den Pflegegrad des Versicherten.

Der Begriff der Pflegebedürftigkeit in den AVB der Kranken- und Lebensversicherer

Sowohl die privaten Kranken- als auch Lebens- und Kompositversicherer bieten Vorsorgelösungen für eine Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit an. Die Definition und Einstufung einer leistungspflichtigen Pflegebedürftigkeit können dabei auf die sozialrechtlichen Grundlagen abstellen, das heißt, der vom Medizinischen Dienst ermittelte Pflegegrad kann dann auch für die Leistungsbegründung und -bemessung herangezogen werden.

Allerdings sollten Vermittler*innen die AVB der Anbieter sehr genau prüfen und immer die Frage stellen, ob der vom MdK ermittelte Pflegegrad von dem privaten Versicherer auch verpflichtend anerkannt wird. So haben sich einige Gesellschaften in ihren Bedingungswerken noch eine Hintertüre eingebaut und behalten sich die Überprüfung des vom MdK ermittelten Pflegegrads durch vom Versicherer beauftragte Ärzte vor.

Alternativ kann eine Pflegebedürftigkeit der versicherten Person auch auf der Grundlage eines ADL-Katalogs geprüft beziehungsweise der Grad der Pflegebedürftigkeit basierend auf ADL-Kriterien ermittelt werden. An dieser Stelle wird dann gerne von „dem“ ADL-Katalog gesprochen, den es – zumindest in der privaten Versicherungswirtschaft – nun einmal nicht gibt.

Welcher ADL-Katalog darf es denn sein?

Die Abkürzung ADL steht für Activities of Daily Living, also für die Aktivitäten des täglichen Lebens. An dieser Stelle gilt festzuhalten, dass „der ADL-Katalog“ keine Erfindung der Deutschen Versicherungswirtschaft ist. Vielmehr wurden Kriterien für die Beurteilung der (defizitären) Alltagsaktivitäten für den Versorgungsbedarf von Patienten in der Krankenpflege herangezogen.

Natürlich kann auf der Grundlage der Alltagsaktivitäten beziehungsweise der teilweisen oder vollständigen Einbuße von Alltagsfähigkeiten auch die Pflegebedürftigkeit eines Versicherten beurteilt und eingestuft werden. Allerdings finden sich vor allem in den Versicherungsbedingungen von Komposit- und Lebensversicherern teilweise unterschiedliche ADL-Kataloge mit vier, fünf, sechs oder auch neun Kriterien.

In den meisten AVB ist dabei ein Sechs-Punkte-ADL-Katalog mit folgenden Beurteilungskriterien anzutreffen:

  • Fortbewegen im Zimmer
  • Aufstehen und Zubettgehen
  • An- und Auskleiden
  • Einnehmen von Mahlzeiten und Getränken
  • Waschen, Kämmen und Rasieren
  • Verrichten der Notdurft

Sofern der Versicherte eine dieser Alltagsfähigkeiten nicht mehr selbstständig, das heißt nur noch mithilfe einer anderen Person bewältigen kann, zählt diese Leistungseinbuße mit einem ADL-Punkt. In Abhängigkeit vom jeweiligen Versicherer begründet sich eine (leistungspflichtige) Pflegebedürftigkeit Grad 2 mit zwei, drei oder vier ADL-Punkten.

ADL-Kataloge mit maximal sechs Kriterien stellen ausnahmslos auf eine Einschränkung motorischer Fähigkeiten von versicherten Personen ab. Mit diesen ADL-Katalogen beziehungsweise -Kriterien kann der seit 1. Januar 2017 gültige sozialrechtliche Begriff der Pflegebedürftigkeit nur noch eingeschränkt nachgezeichnet werden. Bereits im Januar 2017 stellte daher der erste Lebensversicherer einen ADL-Katalog mit neun Beurteilungskriterien vor.

Dabei wurden die ADL-Kriterien aus einem Sechs-Punkte-ADL-Katalog um drei weitere Kriterien zur Prüfung und Bewertung von emotionalen, neurologischen und psychischen Defiziten ergänzt:

  • Kommunizieren: Hilfebedarf liegt vor, wenn die versicherte Person nicht mehr in der Lage ist, mit anderen Personen zu kommunizieren.
  • Denkvermögen: Hilfebedarf liegt vor, wenn die versicherte Person sich ihrer selbst und ihrer Umgebung nicht mehr bewusst ist. Das heißt, die versicherte Person benötigt den ganzen Tag Hilfe in Form von Erinnern und/oder Auffordern.
  • Umgang mit Emotionen: Hilfebedarf liegt vor, wenn die versicherte Person nicht mehr allein mit Emotionen, Wahrnehmungen, Gefühlen sowie Risiken und Gefahren umgehen kann.

Ein leistungspflichtiger Versicherungsfall begründet sich dabei mit dem Nachweis von vier der maximal neun möglichen ADL-Punkte.

Bietet der Versicherer eine Best-of-Both-Regelung an?

Führende Versicherer benennen in ihren Versicherungsbedingungen sowohl die Möglichkeit des Nachweises einer leistungspflichtigen Pflegebedürftigkeit mit dem Pflegegutachten des MdK basierend auf dem sozialrechtlichen Begriff der Pflegebedürftigkeit beziehungsweise den sozialrechtlichen Beurteilungskriterien als auch eine Leistungsbegründung basierend auf ADL-Kriterien.

Sofern die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit einer versicherten Person basierend sowohl auf den sozialrechtlichen Grundlagen als auch auf ADL-Kriterien erfolgt, kann dies zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Eine Best-of-Both-Regelung in den AVB sichert dann dem Versicherungsnehmer die aus Kundensicht bessere Einstufung für die Begründung und die Bemessung seines Leistungsanspruchs.

Bild: (2) © AssekuranZoom GbR