Die spahnsche Pflegereform 2021

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Mit Wirkung zum 01.01.1995 hat der Gesetzgeber die soziale Pflegeversicherung eingeführt. Aufgrund der fortschreitenden Überalterung der deutschen Bevölkerung sind in den letzten 20 Jahren nicht nur die Pflegefallzahlen, sondern auch die Ausgaben für die Pflegekassen sowie die Versicherten immer weiter gestiegen.

Ein Artikel von Alexander Schrehardt, Geschäftsführender Gesellschafter AssekuranZoom GbR

Alexander Schrehardt, Gesellschafter-Geschäftsführer, AssekuranZoom GbR

Der mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz eingeführte einrichtungseinheitliche Eigenanteil in der vollstationären Pflege, das heißt die summenmäßig einheitliche Zuzahlung von Versicherten der Pflegegrade 2 bis 5 zu den vollstationären Pflegekosten, mutierte in vielen Einrichtungen zu einem Kostenkatalysator. Kurz vor der Bundestagswahl hatte der Bundesgesundheitsminister mit dem Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz Leistungsverbesserungen an die Versicherten verteilt.

Hierzu zählen:

  • eine Erhöhung der Pflegesach- sowie der Leistungen der Kurzzeitpflege,
  • eine finanzielle Entlastung der Versicherten in vollstationärer Pflege,
  • eine Verbesserung der Personalsituation in den Pflegeeinrichtungen mithilfe eines an der Zahl der pflegebedürftigen Bewohner ausgerichteten Personalschlüssels,
  • eine tarifvertraglich geregelte Vergütung des Pflegepersonals.

Allerdings muss diese von Euphorie geprägte Gesetzesreform einer kritischen Betrachtung unterzogen werden.

Der § 30 SGB XI und die fehlende Umsetzung

Der Gesetzgeber hatte im Sozialgesetzbuch XI normiert, dass die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung in dreijährigen Intervallen zu prüfen und in Abhängigkeit von der Preisentwicklung anzupassen sind. Nachdem die letzte Erhöhung der Leistungen mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz zum 01.01.2017 vorgenommen wurde, hatte der Gesetzgeber die nächste Überprüfung verpflichtend für das Jahr 2020 in das Gesetz aufgenommen.

Doch, dies mag auch der COVID-19-Pandemie und den damit verbundenen geänderten Prioritäten im Regierungsalltag geschuldet sein, wurde die Prüfung nach § 30 SGB XI auf das Jahr 2021 verschoben.

Leistungsanpassungen wurden mit dem Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz umgesetzt. Allerdings, und dies wirft nicht wenige Fragen auf, treten von den im Entwurf der Gesetzesreform geplanten Leistungsanpassungen nur eine Erhöhung der Pflegesach- und der Leistungen der Kurzzeitpflege mit Wirkung zum 01.01.2022 in Kraft.

So werden 51,3 Prozent der pflegebedürftigen Versicherten in Deutschland von Familienangehörigen und anderen Laienpflegern versorgt. Nachdem auch das Pflegegeld, das an diesen Personenkreis ausbezahlt wird, von der Leistungserhöhung ausgenommen wurde, prüft der Sozialverband VdK bereits rechtliche Schritte gegen den Gesetzgeber.

Leistungszuschläge für Versicherte in vollstationärer Pflege

Im Rahmen einer Gleichbehandlung von pflegebedürftigen Versicherten in vollstationärer Pflege hatte der Gesetzgeber mit Wirkung zum 01.01.2017 den einrichtungseinheitlichen Eigenanteil eingeführt. Danach müssen Versicherte der Pflegegrade 2 bis 5 unabhängig von dem ihnen zuerkannten Pflegegrad den gleichen Zuzahlungsbetrag zu den Pflegekosten leisten. Dabei muss zwingend beachtet werden:

  • Der einrichtungseinheitliche Eigenanteil ist keine Fix-, sondern eine variable Größe, das heißt, der Zuzahlungsbetrag kann sich erhöhen oder auch reduzieren.
  • Der Zuzahlungsbetrag der Versicherten wird immer für die jeweilige Pflegeeinrichtung ermittelt, das heißt, die Zuzahlungsbeträge unterscheiden sich regelmäßig von Pflegeheim zu Pflegeheim.
  • Der einrichtungseinheitliche Eigenanteil bezieht sich nur auf die Pflege-, nicht aber auf die sogenannten Hotelkosten, das heißt Unterkunft, Verpflegung, Investitionskostenpauschale und Ausbildungsumlage. Dieser Kostenblock muss von dem Versicherten in vollem Umfang getragen werden.

Ein Praxibeispiel

In welchem Umfang sich der einrichtungseinheitliche Eigenanteil verändern kann, soll ein Beispiel aus dem familiären Umfeld des Autors belegen.

So berechnete ein Pflegeheim in Nürnberg einer pflegebedürftigen Versicherten ab dem 01.01.2017 den monatlichen Eigenanteil an den vollstationären Pflegekosten mit 479,59 Euro/Monat. Bis zum 01.08.2021 wurde diese Zuzahlung um 191,5 Prozent auf monatlich 1.397,80 Euro erhöht. Berücksichtigt man nun noch die Hotelkosten mit ~ 1.500 Euro/Monat, so saldiert die Gesamtbelastung nach Abzug der Leistungen der sozialen Pflegeversicherung mit fast 2.900 Euro/Monat.

Zu berücksichtigen sind aber auch noch die persönlichen Ausgaben der Versicherten. Wie zum Beispiel Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung, Zuzahlungen zu Medikamenten, Heil- und Hilfsmitteln et cetera. Es ist also nicht verwunderlich, dass ein derartiger Kostenrahmen sehr viele pflegebedürftige Versicherte vor unlösbare Herausforderungen stellt.

Mit der Reform der sozialen Pflegeversicherung hat der Gesetzgeber für Versicherte in vollstationärer Pflege sogenannte Leistungszuschläge in das SGB XI aufgenommen. Der Leistungszuschlag bemisst sich prozentual nach dem einrichtungseinheitlichen Eigenanteil (EEE) und in Abhängigkeit von der Dauer der vollstationären Pflege.

Ab 01.01.2022 erhalten pflegebedürftige Versicherte der Pflegegrade 2 bis 5 bei Aufnahme in die vollstationäre Pflege einen Leistungszuschlag in Höhe von 5 Prozent des EEE. Ab dem 13. Monat der vollstationären Pflege steigt der Leistungszuschlag auf 25 Prozent, ab dem 25. Monat auf 45 Prozent und ab dem 37. Monat auf 70 Prozent des einrichtungseinheitlichen Eigenanteils an.

Vor allem für Versicherte mit einer langen Verweildauer in einem Pflegeheim führt dies zu einer signifikanten finanziellen Entlastung.

Allerdings muss diese Maßnahme des Gesetzgebers, so erfreulich diese im Ergebnis für Versicherte in Pflegeheimen auch ist, durchaus kritisch gesehen werden. Eine Senkung der Kostenbelastung in der vollstationären Pflege kann zu einer Kannibalisierung der ambulanten Pflegedienste führen und wahrscheinlich wird es auch so sein.

So können – in Abhängigkeit vom einrichtungseinheitlichen Eigenanteil der Einrichtung – die Kosten für eine vollstationäre Pflege mit einer 24-Stunden-Versorgung an sieben Tagen/Woche vor allem für Versicherte mit einer längeren Verweildauer und damit einem höheren Leistungszuschuss deutlich niedriger sein als für eine pflegerische Versorgung durch einen ambulanten Pflegedienst. Unter diesem Kostendruck ist eine Verschiebung der pflegerischen Versorgung in Richtung der Pflegeheime als sehr wahrscheinlich einzustufen.

Personalschlüssel und tarifvertragliche Regelung der Vergütung

Mit dem Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz hat der Gesetzgeber – erstmals – einen zulässigen Personalschlüssel für vollstationäre Pflegeeinrichtungen normiert und damit das Verhältnis von Pflegefach-/Pflegehilfspersonal und pflegebedürftigen Versicherten in Abhängigkeit von den Pflegegraden der Versicherten festgelegt.

Die Rückfrage des Autors bei drei Heimleitungen mit der Bitte um deren Einschätzung der Alltagstauglichkeit dieses Personalschlüssels wurde von den Befragten gleichlautend beantwortet. Das vom Gesetzgeber benannte Verhältnis von pflegebedürftigen Bewohnern und Pflegepersonal wurde von allen Befragten als bedarfsgerecht bewertet.

Allerdings sahen die Leiter der befragten Einrichtungen keine Chance, das hierfür erforderliche Personal auf dem Arbeitsmarkt zu finden. Hier werden die Arbeitgeber potenziellen Mitarbeiter*innen eine bessere Entlohnung offerieren müssen.

Die vom Gesetzgeber aufgegebene Verpflichtung zu einer tarifvertraglichen Regelung der Entlohnung, ab 01.09.2022 für Pflegeeinrichtungen als zwingende Voraussetzung für den Abschluss von Versorgungsverträgen, kann in diesem Zusammenhang als Schritt in die richtige Richtung, aber auch als ein Katalysator für weitere Kostensteigerungen gewertet werden.

Das Finanzierungskonzept der Reform

Die Reform der sozialen Pflegeversicherung ist mit erheblichen Mehrausgaben verbunden. Vor allem die Leistungszuschüsse für über 910.000 Versicherte der Pflegegrade 2 bis 5 in vollstationärer Pflege, aber auch höhere Leistungsausgaben bei den Pflegesach- und den Leistungen der Kurzzeitpflege, ein Anbau von weiterem Pflegepersonal und eine tarifvertragliche Regelung der Vergütung wollen finanziert werden.

Als zusätzliche Einnahmequellen benennt der Gesetzgeber eine Erhöhung des Beitragszuschlags für kinderlose Versicherte der sozialen Pflegeversicherung ab dem vollendeten 23. Lebensjahr von bislang 0,25 Prozent auf 0,35 Prozent ab 01.01.2022 sowie einen jährlichen Zuschuss aus dem Bundeshaushalt in Höhe von einer Milliarde Euro.

Dass dieser zusätzliche Einnahmenzufluss für die nachhaltige Finanzierung der ausgelobten Leistungsverbesserungen ausreicht, darf bezweifelt werden.

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