Humanismus in der Pflege erfordert eigene Vorsorge

© Stefan Nimmesgern – laif

Der Pflegenotstand verschlimmert sich. Es mangelt an Personal, die Kosten für Betroffene steigen, Angehörige kommen an ihre Belastungsgrenze und die zahlreichen gesetzlichen Reformen wirken wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Ein selbstbestimmtes Leben im Alter in den eigenen vier Wänden ist der Wunsch vieler Menschen. Dies ist keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern bedarf aktiver Planung und Vorsorge.

Um auf die Situation in der Pflege und die Wichtigkeit privater Vorsorge aufmerksam zu machen, haben sich die vigo Krankenversicherung VVaG und Prof. Dr. Grönemeyer zusammengeschlossen. Mit ihm sprachen wir über seine Einschätzung der aktuellen Lage.

Das Risiko, ein Pflegefall zu werden, ist alterslos. Es kann jeden treffen, zu jeder Zeit. Trotzdem verdrängen oder ignorieren Menschen in unserem Land dieses Risiko. Wovor scheuen wir uns?

Prof. Dr. Grönemeyer: Den Begriff „ignorieren“ würde ich inzwischen fast streichen, weil Pflege als Diskussionspunkt immer spürbarer wird. „Verdrängen“ trifft das Verhalten in der Bevölkerung jedoch ganz gut. Man weiß, dass da etwas schlummert, geht es aber nicht angemessen an. Es lässt sich zumindest nicht sicher verhindern, Pflegefall zu werden. Das gehört zum Menschsein dazu und um diesen Umstand sollte auch jeder wissen. Verdrängt wird wohl eher das Pflegekostenrisiko. Möglicherweise haben die letzten Reformen in der Pflege – oder besser gesagt das Suggerieren einer vollumfassenden Lösung durch den Staat – das Verdrängen verstärkt.

Wie können Ängste oder Hürden, die mit diesem Risiko verbunden sind, abgebaut werden?

Es bedarf umfassenderer Informationen zur aktuellen und künftigen Pflegesituation in Deutschland. Zusätzlich halte ich einen Aufruf für wichtig, sich frühzeitig damit zu befassen, wie die mögliche Pflegebedürftigkeit gestaltet werden könnte und was es überhaupt heißt, sich nicht mehr alleine versorgen zu können. Je besser dafür Regelungen und eine Vorsorge getroffen worden sind, desto höher sind die Chancen darauf, dass diese Zeit noch sehr lebenswert verbracht werden kann.

Indem ich nun selbst das Wort ergreife, möchte ich ebenfalls einen kleinen Teil dazu beitragen, die Menschen zum eigenen Handeln zu motivieren. Hier arbeite ich vertrauensvoll mit der vigo Krankenversicherung aus Düsseldorf zusammen, die auf Pflegevorsorge spezialisiert ist. Weitere laute Stimmen würde ich begrüßen.

Pflege und alles, was damit in Verbindung steht, hat viele Facetten. Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass der Pflege in unserer Gesellschaft so wenig Wertschätzung entgegengebracht wird?

Einen Menschen zu pflegen, ist eine wundervolle und enorm wichtige Aufgabe. Das kommt in der allgemeinen Wahrnehmung viel zu kurz. Unsere Gesellschaft ist in einem Hamsterrad gefangen, dessen Räder den Aufdruck „höher, schneller, weiter“ tragen. Menschen in ihren letzten Jahren haben Zuwendung und Respekt verdient, ebenso wie die Personen, welche ihnen Zeit schenken und sie umsorgen. Dabei geht es auch um angemessene Arbeitsbedingungen und eine faire Entlohnung.

Pflege geschieht für die Öffentlichkeit im Verborgenen, geht uns aber alle an. Kürzlich gingen in NRW dafür Beschäftigte der Universitätskliniken auf die Straße. Das kann die Sichtbarkeit des Themas erhöhen. Das zeitweise erfolgte Klatschen für das Personal muss nachhaltiger werden und durch spürbare Maßnahmen auch tatsächlich ankommen. Nur so wird es gelingen, genügend Arbeitskräfte für diesen Beruf zu gewinnen.

Selbstbestimmt leben geht einher mit Würde und Respekt und sollte kein leeres Versprechen sein. Wie können Pflegebedürftige diese Menschenbedürfnisse tatsächlich „erleben“?

Das ist sicherlich sehr individuell. Aus meiner Erfahrung als Mediziner weiß ich, wie wichtig zumindest die Begegnung auf Augenhöhe ist. Ein Abfertigen wie am Fließband ist zu verhindern, wird für die Pflegenden jedoch immer herausfordernder. Es darf niemals vergessen werden, dass es um den Dienst am Menschen geht. Das erfordert Zeit, um die Wärme des Umfeldes – sei es auch „nur“ durch eine Pflegekraft – spüren zu können.

Pflege ist persönlich und emotional. Können diejenigen, die damit bereits in Berührung gekommen sind, einen Beitrag für eine Bewusstseinsänderung leisten? Und wie laut oder prägnant müsste die Stimme derer sein?

Unbedingt! Es sollte kein Tabu-Thema sein, von Erfahrungen zu berichten. Stattdessen sollte jeder seinen Radius nutzen, um Mitmenschen zu beschreiben, was es heißt, eingeschränkt zu sein, und wie wertvoll eine Unterstützung in dieser Situation ist. Für mich als Mensch und Arzt und auch meine Familie war und ist das selbstverständlich. Haben wir doch unsere Mutter, unseren Vater mit ihrer zunehmenden Demenz und auch meinen Bruder mit seiner dramatisch verlaufenen Krebskrankheit bis zum Lebensende persönlich mit Unterstützung von liebevollen Krankenschwestern und Altenpflegerinnen zu Hause gepflegt.

Der prognostizierte „Pflegenotstand“ ist seit geraumer Zeit Fakt und eine der größten politischen und gesellschaftlichen Aufgaben, heute und in Zukunft. Wie schätzen Sie als Humanmediziner die Lage ein?

Die Lage ist bedenklich und spitzt sich weiter zu. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird weiter explodieren. In den Disziplinen der Medizin und der Pflege steht der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt. Im Jahr 2035 könnten fast 500.000 Pflegekräfte fehlen, um eine angemessene Versorgung sicherstellen zu können. Die statistischen Voraussagen liegen alle auf dem Tisch. Es muss endlich ein Umdenken stattfinden, um Personal zu gewinnen, auszubilden und zu halten.

Als Humanmediziner haben Sie den Begriff „Weltmedizin“ geprägt, um das gesamte Wissen der Medizin für ein gesundes Leben zu vereinen. Adaptieren wir diesen Ansatz auf die „Pflegewelt“ – was wäre zu tun?

Erstrebenswert ist ein System, in welchem die Bedürfnisse eines jeden Einzelnen erfasst werden und Behandlung sowie Pflege in individueller Form erfolgt. In der Prävention kann mehr getan werden, um die Selbstständigkeit – insbesondere in der Beweglichkeit – möglichst lange zu erhalten. Jede Medizin-Schule hat ihre Berechtigung, sofern ihre Methoden heilsam sind.

Richtig wäre es, die unvorstellbare Vielfalt der verschiedenen Heilsysteme auch als eine Einheit zu begreifen: traditionelle Heilweisen und Schulmedizin, körperlich und psychisch orientierte Methoden. Das nenne ich Weltmedizin. Dazu gehört auch die Pflege. Die fürsorgliche Zuwendung, das liebevolle Gespräch, das sich daraus ergebende Verständnis für die individuelle Situation und das Bedürfnis der zu pflegenden Person.

Daraus ergeben sich die Maßnahmen, ob mit traditionellen Verfahren wie Massagen, Entspannungstechniken oder dem Einsatz von Pflanzenmedizin oder schulmedizinischen Heilverfahren wie der Physiotherapie oder Osteopathie. Die deutliche Erhöhung des Zeitkontingentes und dessen Finanzierung ist dafür in Zukunft wesentlich für eine menschenwürdige Pflege.

Wie können oder sollten sich pflegende Angehörige helfen lassen, um die Mehrfachbelastung meistern zu können?

Früher war die Pflege älterer Angehöriger klassische Aufgabe der Angehörigen, meist der Frauen, und oft lebten mehrere Generationen gemeinsam in einem Haus. Dieses an sich schöne Miteinander findet sich heutzutage in der Gesellschaft kaum noch und ist häufig in der globalisierten, sich immer schneller drehenden Welt auch nicht mehr realistisch umsetzbar. Diese Distanz fordert Familien organisatorisch und finanziell in extremer Weise.

Für die Pflegebedürftigen kann es sehr schön sein, wenn ihre Liebsten zumindest teilweise in die Pflege eingebunden sind. Ergänzend sollten ambulante Pflegedienste oder andere Unterstützungskräfte hinzugezogen werden. Es kann hilfreich sein, Beratungsstellen zu kontaktieren. Diese werden zum Beispiel von Pflegekassen, Kommunen und Wohlfahrtsverbänden betrieben, die auch auf Entlastungsangebote für die Pflegepersonen hinweisen.

Auch Angehörige und nahestehende Personen haben übrigens einen eigenständigen Anspruch auf Pflegeberatung. Es besteht Anspruch auf Pflegekurse, gegebenenfalls Kuren und zusätzlichen Urlaub. Zudem kann für die Dauer von maximal sechs Monaten Pflegezeit genommen werden. Beschäftigte, die einen Angehörigen pflegen, können ihre wöchentliche Arbeitszeit für die maximale Dauer von zwei Jahren auf bis zu 15 Stunden pro Woche reduzieren.

Die Generation der Babyboomer und ein andauernder Geburtenunterschuss seit den 70er-Jahren haben den Generationenvertrag unter anderem in Schieflage gebracht. Wie kann ein „Generationenvertrag Zukunft“ entstehen, der das Beste aus Erfahrung, Fortschritt und Veränderungsbereitschaft bündelt?

Hier geht es um eine nachhaltige Finanzierung mit einem ständigen Austarieren der gesetzlichen Leistungen. Da die Pflegepflichtversicherung von Anfang an im Umlageverfahren umgesetzt wurde, bietet sie keine Generationengerechtigkeit. Die Sozialsysteme sind jetzt schon unterfinanziert und der Trend setzt sich fort.

Die Erkenntnis, dass ein weiteres Nachschießen von Steuermitteln nicht grenzenlos möglich beziehungsweise sinnvoll ist, wird immer deutlicher. Der Staat kann nicht für alles aufkommen und darf nicht im Gießkannensystem Leistungen ausweiten auf Kosten der Bevölkerung. Es fehlt an der Ehrlichkeit, klar zu kommunizieren, dass Humanismus in der Pflege eigene Vorsorge erfordert. Eine individuelle kapitalgedeckte Absicherung, welche staatliche Zuschüsse erfährt, kann dabei ein wichtiges Instrument sein.