„Politik und Bevölkerung sind sich der Dramatik der Situation im Gesundheitsbereich nicht bewusst“

© Nikish Hiraman/peopleimages.com – stock.adobe.com

Der Beirat Gesundheit des Bundesverbandes Der Mittelstand. BVMW warnt vor akutem Handlungsbedarf bei der Finanzierungsreform der gesetzlichen Krankenkassen, der Reform der Pflegeversicherung und auch der Krankenhausreform. Hier sei das Bundesministerium für Gesundheit gefordert.

„Ein Großteil der Bevölkerung ist sich der Dramatik der Situation im Gesundheitswesen nicht bewusst“, sagt Dr. Hans-Ulrich Holtherm von der Sanitätsakademie der Bundeswehr. Bei der Reform der gesetzlichen Krankenkassen steige die Finanzierungslücke der Kassen immer weiter, ergänzt Beiratsmitglied Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK Gesundheit. Eine Umsetzung der Finanzierungsreform erscheine in dieser Legislaturperiode immer unwahrscheinlicher.

Trotz der angespannten Situation und zweistelligen Inflationsraten stagnierte das von der Ampelkoalition und Finanzminister Lindner beschlossene Budget für das Gesundheitsministerium auf Vor-Corona-Niveau. Der BVMW-Beirat hat den Eindruck, dass der Umfang der Probleme im Gesundheitswesen noch nicht vollständig bei der Politik angekommen sei.

Beitragserhöhungen sind No-Go für den Mittelstand

Professor Alexander Ehlers, Sprecher des Beirat Gesundheit, sagt: „Mit Blick auf die Inflation und die Mehrbelastungen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer muss das Ziel der Politik sein, die 40-Prozent-Grenze bei den Sozialabgaben wieder einzuhalten. Von einer weiteren Erhöhung der Beiträge ist dringend abzuraten.“

Laut Daniel Bahr, Mitglied des Vorstands der Allianz Private Krankenversicherungs AG, sei es höchste Zeit darüber zu diskutieren, welche Leistungen gesetzliche Krankenversicherungen in Zukunft leisten müssten.

„Wenn die Schuldenbremse eingehalten werden soll, kann der Staat nicht wie bisher die Kassen mit jährlichen Zuschüssen zu stabilisieren“, so Bahr. Folgerichtig müssten entweder Leistungen gekürzt oder die Eigenbeteiligung der Versicherten erhöht werden. Dann stünde auch die Wiedereinführung der Praxisgebühr zur Debatte.

Die medizinische Nahversorgung ist gefährdet

Professor Michael Popp, CEO der Bionorica Arzneimittel GmbH, bemängelte, dass nahezu keine Wirkstoff- und Antibiotikaherstellung in Deutschland mehr stattfinde. Vor allem mit Hinblick auf globale Krisen und angespannte Lieferketten, führe dies, so der Beirat, zu immer mehr Versorgungsengpässen.

Als Beispiel nennt Gabriele Regina Overwienning, Präsidentin der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, Lieferengpässe etwa bei Fiebermitteln, bei denen die Apotheker und Apothekerinnen den Unmut der Betroffenen zu spüren bekommen. Auch das Konzept der Apotheke als Versorger in der Fläche ist bedroht.

„Momentan macht der durchschnittliche Apotheker mit jedem Verkauf eines verschreibungspflichtigen Medikaments einen Verlust von 27 Cent“, sagt Overwienning. Existenzfähig hielten sich diese Apotheken nur noch durch den Verkauf von nichtverschreibungspflichtigen Medikamenten. „Das kann nicht nachhaltig sein und führt über kurz oder lang zum Apothekensterben.“

Angesichts des erhöhten Finanzierungsbedarfs stehen mittelfristig auch viele Krankenhäuer vor dem aus. „Wenn wir an die medizinische Versorgung im ländlichen Raum denken, muss über deren Nachverwendung, zum Beispiel aus lokalen Versorgungszentren, nachgedacht werden“, so Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK.