Prokrastination versus Präkrastination: Dinge aufschieben oder sofort erledigen?

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Den Rechnungsbetrag bereits überwiesen zu haben, kaum dass der Brief entfaltet wurde oder diesen zunächst ungeöffnet liegen lassen, bis die Mahnung kommt? Das Begriffspaar Präkrastination und Prokrastination steht für die Gegensätze sofortiger beziehungsweise oder herausgezögerter Aufgabenerledigungen. Was zu bevorzugen ist, ist dabei noch lange nicht erwiesen.

Wie lässt sich Stress vermeiden?

Die zunehmende Geschwindigkeit, mit der sich in der heutigen technisierten Welt alles abspielt, sorgt bei vielen bereits an sich für stressvolle Situationen.

Wem dies nicht reicht, der kann seine psychische Belastung bewusst verstärken – durch eine unmittelbare Durchführung sämtlicher noch so kleiner Angelegenheiten oder auch das unnötige Verschieben und ständige Unterbrechen bedeutender Tätigkeiten.

In beiden Fällen können psychosomatische Krankheitsbilder die Folge sein – und für beide Aktionen beziehungsweise Unterlassungen gibt es einen Fachbegriff: Prokrastination beziehungsweise Präkrastination.

Mit Sicherheit hat jeder schon einmal unliebsame Aufgaben vor sich hergeschoben oder gute Vorsätze ins neue Jahr vertagt, gleichzeitig einmal zu schnell eine E-Mail versendet oder aus Hektik den falschen Pullover zur Kleiderspende gegeben.

Während einige stets überpünktlich zu Verabredungen erschienen, hoffen andere, dass der Knoten im Taschentuch sie später auch daran erinnert, an was sie sich erinnern möchten. Gleichzeitig wissen viele, wenn es ernst wird, wie sie sich ihre Zeit einteilen sollten, um eine optimale Work-Life-Balance zu schaffen und nach einer Pause gestärkt neue Aufgaben anzupacken.

Doch was, wird die Pause endlos verlängert? Oder vor lauter Arbeit komplett vergessen? Wird aus einer Charaktereigenschaft ein Spleen und führt dieser ins Extreme, so können sie sowohl als Pro- als auch als Präkrastination ernsthafte gesundheitliche Folgeschäden nach sich ziehen.

Gut Ding will Weile haben

Aus dem Lateinischen stammt die Vokabel procrastinatio, deren Präfix „pro“ sich mit „vorwärts“ übersetzen lässt. Doch vorwärts geht es hier nicht im Sinne einer elanvollen Aktivität. Vielmehr handelt es sich um ein Vorwärts-Schieben auf den crastinum, den morgigen Tag.

Doch dem wissenschaftlichen Begriff Prokrastination bedient sich kaum noch jemand, Aufschieberitis oder Bummelei sind die bekannteren Bezeichnungen für das weit verbreitete Phänomen.

Dabei geht es nicht um das einmalige Hinauszögern unliebsamer Aufgaben wie der Steuererklärung oder dem Frühjahrsputz, sondern um das ständige Vertagen sämtlicher auch wichtiger Angelegenheiten.

Obwohl eine Prokrastination international nicht als Krankheiten klassifiziert ist, kann sie Vorbote von Depressionen oder auch Folge körperlicher Leiden oder Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen sein. Grundsätzlich jedoch sind diese Extremfälle selten – zu einem gelegentlichen Aufschieben hingegen neigt ein Großteil der Bevölkerung eher als zum sofortigen Abarbeiten.

Vielfältige Ursachen

Weshalb das Ausräumen der Spülmaschine, das Telefonat mit der Großmutter oder der Blick in den privaten E-Mail-Account der Erledigung wichtigerer Aufgaben vorgezogen werden, hat vielfältige Gründe, die sowohl den Umständen als auch der betroffenen Person selber geschuldet sind.

Die Aufgabe als Auslöser

  • Angst vor Verantwortung
  • Sorge vor Konsequenzen der Ausführung
  • Unzureichende Informationen zur Erledigung
  • Aufgabe erscheint überflüssig, langweilig oder ungerecht
  • Fachliche Überforderung
  • Unklare Aufgabenstellung
  • Zu enge Terminierung
  • Fehlende Management-Techniken

Die Psyche als Anlass

  • Soziale Verlust- und berufliche Versagensängste
  • Motivations- und Konzentrationsprobleme
  • Entscheidungs- und Priorisierungsschwierigkeiten
  • Labile physische oder psychische Verfassung
  • Druck zur Leistungserbringung
  • Kulturell bedingtes unterschiedliches Zeitverständnis

Ist Aufschieben wirklich nachteilig?

Wer das ständige Hinauszögern von Aufgaben ändern möchte, sollte sich daher zunächst nach dem Grund dafür befragen. Grundsätzlich ist die Prokrastination negativ besetzt. Aber ist es wirklich besser, stets alles sofort zu erledigen? Kann es sich eventuell als lohnend erweisen, Dinge aufzuschieben?

Nachteile der Prokrastination

Zunächst scheint es auf der Hand zu liegen: Es ist belastend, Aufgaben lange aufzuschieben. Denn ihre notwendige Erledigung ist ständiger Begleiter während der alternativen Beschäftigungen. Und am Ende entsteht Abgabedruck – der Hausarbeit, des Geschäftsberichtes oder eben der Steuererklärung.

Zum Stress gesellt sich ein schlechtes Gewissen, die Laune sinkt auf einen Tiefpunkt. Kein Wunder, dass Ratgeber zur Motivationssteigerung, Apps mit Tipps zum Erstellen und Einhalten von To-do-Listen und zur schnellen Abhilfe Hochkonjunktur haben.

Doch lassen sich ein harmonisches Privatleben und beruflicher Erfolg wirklich an der chronologischen Reihenfolge anstehender Verpflichtungen ablesen? Sind nicht vielleicht andere Faktoren ausschlaggebend für das Erklimmen der Karriereleiter? Spricht im Gegenteil nicht sogar vieles dafür, Aufgaben nicht sofort zu erledigen?

Vorteile der Prokrastination

Fast jeder hat sich schon einmal im Eifer des Gefechts zu unbedachten Worten hinreißen lassen, spontan auf eine E-Mail geantwortet und es im nächsten Augenblick bereut. Auch in anderen Fällen ist die erstbeste Idee nicht wirklich immer die beste.

Wer zunächst abwartet, sich Zeit nimmt und die Situation von allen Seiten beleuchtet, macht sich die möglichen Konsequenzen seiner Handlung bewusst, kann fehlende Informationen recherchieren und sich mental mit seinem künftigen Tun befassen.

Auch in Phasen übermäßiger Müdigkeit oder mangelnder Konzentration erweist es sich häufig als sinnvoll, anstehende Tätigkeiten erst dann aufzunehmen, fühlt man sich ihnen physisch und psychisch gewachsen. Eine Prokrastination kann so zu

  • besonders hoher Kreativität
  • Effektivität unter Termindruck
  • Beschränkung auf das Wesentliche
  • Erwägungen in alle Richtungen

führen.

Dennoch überwiegen in der Wissenschaft die Ansichten, dass sich das initiative Vermeiden anstehender Aufgaben und Konflikte negativ auf das Selbstbewusstsein auswirke. Nur in Ausnahmefällen führe erst der Adrenalin-Kick des möglichen Versagens zu einer ungeahnten Produktivität. Für alle anderen gelte: Was du heute kannst besorgen …

Der frühe Vogel fängt den Wurm

Während sich eine Prokrastination nach unabhängigen Studien vor allem im Studentenleben zeigt, ist die Präkrastination ein Phänomen des späteren Arbeitsalltags.

Begünstigt durch die zunehmende Digitalisierung und einen generell steigenden Druck in der modernen Geschäftswelt wurde das Antonym zur lang bekannten Prokrastination erst im Jahr 2014 von einem US-amerikanischen Psychologieprofessor geprägt.

Entsprechend steht die Datenlage in Deutschland noch an ihrem Anfang. Fest steht jedoch, dass auch hier ein Blick unter die Oberfläche lohnt. Auf den ersten Blick erscheint wie der ideale Arbeitnehmer, wer alle geforderten Tätigkeiten nicht nur wunschgemäß, sondern auch in einer überdurchschnittlichen Schnelligkeit ausführt.

Doch wer gerne alles am liebsten bereits gestern erledigt hätte, profitiert nicht unbedingt von einem Mehr an Freizeit, übt selbst geschaffenen Druck auf sich aus und steht in Extremfällen unter einem zwanghaften Erledigungstrieb.

Vielfältige Ursachen

Ratgeber und Apps mit Vorschlägen für To-do-Listen und zum Managen eines effektiven Alltags benötigen sie weniger als hilfreiche Tipps zum Abschalten: Einer der Hauptgründe für Personen mit einer ungezügelten Erledigungswut ist es, den Kopf freizuhaben von unerfreulichen Aufgaben. Daneben finden sich zahlreiche weitere Ursachen für eine Präkrastination:

Die Aufgabe als Auslöser

  • frühere Beendigung des Arbeitstages
  • mehr Freizeit
  • Verdrängen der Konkurrenz

Die Psyche als Anlass

  • Kognitive Entlastung
  • Hoffen auf Anerkennung

Ist eine schnelle Aufgabenerledigung wirklich vorteilhaft?

Arbeit kann Spaß machen, Erfolg Endorphine ausschütten, ist die Hürde einer unangenehmen Aufgabe beseitigt, beruhigt sich das Gewissen, ein Sorgenfaktor entfällt. Darüber hinaus gibt es weitere

Vorteile einer Präkrastination

  • Entlastetes Gewissen
  • Glücksgefühl nach getaner Arbeit
  • Durch Stress motivierte Höchstleistungen
  • Ein freier Kopf
  • Kein Versäumen von Fristen
  • Wahrscheinlicher Anstieg auf der Karriereleiter

Doch wie lange hält das Glück? Gibt es ein Ende der Erledigungswut oder führt die Spirale zu dauerhaftem Stress? Denn zu tun, gibt es ja immer irgendetwas …

Nachteile einer Präkrastination

Wer den Chef zunächst durch schnelle Arbeit beeindruckt, setzt auch eine Anspruchshaltung: Sind alle Aufgaben abgearbeitet, ist die Folge nur selten ein früher Feierabend.

Stattdessen gibt es eine neue Liste, die Anzahl der unerledigten Aufgaben nimmt zu und mit ihr der Druck. Als Folge leidet nicht nur die präzise Ausführung – auch Familie und Freundeskreis können sich vernachlässigt fühlen. F

olgende negative Seiten können bei einer Präkrastination unter anderem auftreten:

  • Wachsendes Stresslevel
  • Kein sorgfältiges Arbeiten
  • Weniger Freizeit
  • Oberflächliches Recherchieren
  • Erstbeste Lösung suchen
  • Hohe Fehleranfälligkeit
  • Verlust des Fokus auf die tatsächlichen Prioritäten
  • Psychische Erkrankungen

Die goldene Mitte

Was also ist zu bevorzugen: Pro- oder Präkrastination? Wie so oft im Leben lässt sich auch hier keine pauschale Aussage treffen. Die Welt geht jeweils nicht unter.

Doch, sobald das Aufschieben eine Arbeitsüberlastung oder eine Nichtbearbeitung anstehender Aufgaben das eigene Stresslevel unnötig erhöhen, sind Blicke in Ratgeber und Apps vielleicht doch hilfreich.

Oder auch der Rückgriff auf das Eisenhower-Prinzip, das anstehende Aufgaben in ihre Wichtigkeit und Dringlichkeit kategorisiert. Wer Prioritäten setzt, über die Arbeit nicht seine Freizeit vergisst und über seine Freizeit nicht die Arbeit, der wird am Ende beide Extreme vermeiden können.

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