Ist „lebensbegleitend“ auch immer „lebensnah“?

„Citius, altius, fortius“, zu Deutsch: schneller, höher, stärker. Das ist das Motto der Olympischen Spiele seit dem Jahr 1924. Im übertragenen Sinne lassen sich diese drei gesteigerten Adjektive auch auf zahlreiche Versicherungsunternehmen anwenden, um die Ausbau- und Gestaltungsmöglichkeiten der hauseigenen Konzepte zur Absicherung der Berufsunfähigkeit (BU) zu beschreiben.

Autor: Steffen Hammer, Manager Marktbearbeitung, Swiss Life AG, Niederlassung für Deutschland

Da geht es um „höhere“ Renten im Rahmen der Nachversicherungsgarantie, egal ob mit konkretem Ereignis oder auch „ohne“. Da geht es um „mehr“ Versorgung im Leistungsfall durch die idealerweise regelmäßig anzunehmenden Dynamik-Angebote. Und es geht um „schnellere“ Renten, zum Beispiel ohne einen vollumfänglichen Leistungsprüfungsprozess bei konkret definierten Krankheitsbildern und Diagnosen.

Viele dieser zweifelsohne extrem wichtigen Einzelbausteine werden dann von den Marketing-Abteilungen in wunderschöne Schaubilder eingebaut, von Rating-Unternehmen mit Punkten und Symbolen versehen und unterm Strich als „lebensbegleitende“ Aspekte einer guten BU-Police mit einem grünen Haken versehen.

Doch all das sieht logischerweise vor, dass die Kundin und der Kunde auch zu praktisch jedem Zeitpunkt im Leben des BU-Vertrages der eigenen Pflicht nachkommen, diese Police auch regelmäßig mit den vereinbarten Beiträgen zu bedienen. Ein schönes, heiles Bild, das fast der Biedermeier-Zeit entsprungen zu sein scheint.

Wie die Realität aussieht

Wenn wie sieht denn in vielen Fällen die aktuelle Realität aus: Durch die COVID-19-Pandemie, die damit verbundenen Lockdown-Phasen und die daraus resultierten wirtschaftlichen Verwerfungen gab es deutliche Veränderungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt.

Im Dezember 2019 waren circa 2,2 Millionen Menschen arbeitslos, ein Jahr später im selben Monat über 2,7 Millionen. Selbst im Juli 2021 waren es immer noch knapp 2,6 Millionen.

Es gibt auch eine große Zahl von Menschen, die in dieser Zahl nicht erfasst sind, aber dennoch merkliche finanzielle Einschnitte hinnehmen mussten. Während vor Ausbruch der Pandemie im Dezember 2019 gerade einmal 145.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Kurzarbeit waren – das entspricht großzügig gerechnet der Einwohnerzahl Paderborns –, schnellte deren Zahl bis April 2020 auf über sechs Millionen nach oben.

Und auch im Juli diesen Jahres betraf diese Situation immer noch mehr als eine Million Menschen – das entspricht der Einwohnerzahl der gesamten Stadt Köln.

Natürlich kennt in diesem Zusammenhang jeder die Geschichten von denen, die 90 Prozent des bisherigen Nettoeinkommens als Kurzarbeitergeld erhalten haben und dafür nicht einmal arbeiten mussten, aber machen wir uns auch hier nichts vor:

Das sind die Ausnahmen. Die meisten der in der Spitze sechs Millionen Menschen – das sind im Übrigen so viel wie die Einwohner von Köln, München und Berlin zusammen (!) – haben durch diese Phase der Kurzarbeit teils erheblich weniger im Portemonnaie.

Das belastet in vielerlei Hinsicht. Doch was ist zu tun, wenn nun einfach die gewohnten Einnahmen nicht mehr fließen, an denen man selbstverständlich auch das finanzielle Absicherungs- und Vorsorgekonzept orientiert hat? In solchen Situationen zeigt sich, ob „lebensbegleitend“ auch wirklich „lebensnah“ bedeutet.

Die Lösungswege sind verschieden

Betrachten wir konkret mögliche Lösungsszenarien auf Basis aktueller, moderner BU-Tarife. Keine Angst, wir wollen hier jetzt nicht „angestaubte“ Versicherungsbedingungen rezitieren und auf Paragrafen im VVG querverweisen.

Wir wollen dieser schematischen Betrachtung ein emotionales Antlitz verschaffen und zwei gängige und eine moderne Vorgehensweise im Falle von finanziellen Engpässen auf Kundinnen und Kundenseite mit einem „echten Menschen“ übersetzen.

Wichtige Information vorweg: Wir konzentrieren uns hier auf die Lösungen, bei denen die versicherte Person auch weiterhin einen echten Nutzen aus dem Vertrag erfahren würde. Die Möglichkeiten der Kündigung oder der dauerhaften Beitrags- und Leistungsreduktion auf ein mikroskopisches Niveau lassen wir natürlich außen vor.

Darf ich vorstellen: Charlotte

Wir sprechen über Charlotte. Charlotte ist heute 30 Jahre alt, arbeitet als Reiseverkehrskauffrau und liebt es, andere Menschen an wunderschöne Flecken auf dieser Erde in den Urlaub zu schicken.

Sie hat vor fünf Jahren eine selbstständige BU mit einer eingeschlossenen Leistung bereits bei längerer Arbeitsunfähigkeit abgeschlossen und seitdem dafür 92 Euro monatlich gezahlt. Im Leistungsfall ist dafür eine Rente in Höhe von 1.800 Euro bis zum 67. Lebensjahr versichert.

Durch die COVID-19-Pandemie brach die Tourismus-Branche weltweit ein – und Charlottes Welt zusammen. Über Monate war sie mehr mit Stornierungen und Reklamationen als mit der Erstellung toller Reisekonzepte beschäftigt – und das alles in Kurzarbeit.

Da taten die 92 Euro Abzug auf dem Kontoauszug merklich weh. Was konnte sie tun, um für die nächsten zwölf Monate diesen finanziellen Posten zu relativieren?

Lösungs-Szenario 1: Die Stundung

In ihren Bedingungen fand sie die Passage mit dem Titel „Stundung der Beiträge“. Bis zu 24 Monate möglich, und das unter Beibehaltung des vereinbarten Versicherungsschutzes. Klang gut!

Voraussetzung war, dass der Vertrag ein ausreichend hohes Deckungskapital aufweist, das mindestens dem Gegenwert der zu stundenden Beiträge entspricht. „Wie bekomme ich das jetzt raus?“, fragte sich Charlotte. Ein kurzer Anruf beim Versicherer genügte und sie war im Bilde.

Das Deckungskapital lag bei über 1.100 Euro. Über diesen Weg wäre es Charlotte also möglich gewesen, bei vollem Schutz ganz ohne Beitrag unterm Strich ein Jahr zu überbrücken, was einem Beitrag von 1.104 Euro entspricht (Monatsbeitrag 92 Euro x 12 Monate).

Aber wie immer gab es ein „aber“. Denn die „gestundeten“ Beiträge sind ja keine „geschenkten“ Beiträge. Charlotte müsste also nach dem Jahr der Stundung die Beiträge, zwar zinsfrei, aber dennoch nachzahlen.

Und hier liegt meist der Casus Knacksus, denn viele der Betroffenen haben ja auch nach dem Stundungszeitraum nicht plötzlich das Geld zur Verfügung, das ratierlich während der Stundung nicht vorhanden war.

Die Folge ist nicht selten eine verspätete Stornierung des Vertrages oder eine massive Leistungsreduktion. Für Charlotte war das nicht die Lösung, die sie sich erhofft hatte. Daher befasste sie sich weiter mit ihrem Bedingungswerk.

Lösungs-Szenario 2: Die befristete Beitragsfreistellung

Sie wurde fündig in einer Passage mit der Überschrift „Befristete Beitragsfreistellung oder Beitragssenkung“. Bis zu 18 Monate könnte man durch diese Regelung ganz ohne Beitrag den Vertrag aufrechterhalten, jedoch mit einer reduzierten versicherten Leistung.

Das hätte zu Charlottes Wunsch gepasst, für zwölf Monate die Ausgaben zu reduzieren. Voraussetzung ist, dass zum Zeitpunkt der befristeten Beitragsfreistellung die dann beitragsfreie Berufsunfähigkeitsrente bei mindestens 600 Euro jährlich liegt.

In Charlottes Fall genügte ein kurzer Blick in ihren Versicherungsschein, in dem eine entsprechende Tabelle zu finden war. Im fünften Jahr des Vertragsbestehens lag dieser Wert bei circa 760 Euro im Jahr, war also ausreichend.

Nach Ablauf einer solchen befristeten Beitragsfreistellung ist das Positive, dass der Vertrag ohne erneute Risikoprüfung fortgesetzt werden kann. Der Nachteil ist allerdings, dass man zum einen nach Beitragsfreistellung entweder den gesparten Beitrag über die restliche Vertragsdauer in Form höherer Beiträge nachzahlen oder eine dauerhafte Leistungsreduktion hinnehmen müsste.

Zum anderen gäbe es bei einem Leistungsfall während der Beitragsfreistellungs-Phase nur eine stark verringerte Leistung. Denn 760 Euro beitragsfreie Rente im Jahr entsprechen gerade einmal circa 63 Euro Monatsrente – also deutlich weniger als die eigentlich verbrieften 1.800 Euro monatliche BU-Rente. Da es Charlotte natürlich auch in dieser Zeit um einen auskömmlichen Schutz geht, stellte auch dieses Lösungs-Szenario in ihren Augen nicht wirklich das Optimum dar. Daher las sie weiter.

Lösungs-Szenario 3: BUprotect

Diese Lösung weckte Charlottes Aufmerksamkeit, denn sie fand sich direkt wieder in der Beschreibung im Rahmen der Bedingungen. Bei Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit, einer Weiterbildung in Vollzeit, im Rahmen des Mutterschutzes, der Elternzeit und bei einem mit dem Arbeitgeber vereinbarten Sabbatical hat man die Möglichkeit, temporär den Beitrag auf fünf Euro pro Monat zu reduzieren.

So weit, so gut, aber wie sieht es mit der Leistung aus? Wird man in dieser Zeit berufsunfähig im Sinne der Bedingungen, erhält man während der Dauer der Berufsunfähigkeit 70 Prozent der zuletzt vor BUprotect versicherten BU-Rente.

Das entsprach schon deutlich mehr Charlottes Vorstellung, denn 70 Prozent von den aktuell versicherten 1.800 Euro im Monat entsprechen 1.260 Euro monatlich, und das für lediglich fünf Euro Beitrag. Je nachdem, wie lange der Vertrag schon Bestand hatte, hätte Charlotte diesen Weg für bis zu 36 Monate beschreiten können, ihr reichten aber wie schon beschrieben zwölf Monate aus.

Wie geht es nach dem Jahr weiter? Standardmäßig würde der Beitrag wieder auf das „alte“ Niveau von in unserem Fall 92 Euro zurückkehren mit einer leichten Anpassung der ab diesem Zeitpunkt versicherten Rente auf circa 1.770 Euro monatlich.

Alternativ kann Charlotte auf Wunsch aber auch zur ursprünglichen BU-Rentenhöhe zurückkehren mit einem dann leicht korrigierten Beitrag auf circa 94 Euro im Monat. Wichtig war ihr aber, dass sie neben der finanziellen Entlastung weiterhin einen möglichst hohen Schutz genießt – ohne dass sie ein finanzieller Bumerang in Form einer hohen Nachzahlung trifft.

Fassen wir zusammen …

An Charlottes Beispiel sehen wir, dass es natürlich in modernen Bedingungswerken Lösungen auch für solche besonderen Lebensphasen gibt. Deren Wirkung und Nutzen sind jedoch höchst unterschiedlich zu bewerten, denn einige verlagern beziehungsweise verschleppen das Problem nur auf einen späteren Zeitpunkt.

Im Krimi würde man sagen, dass die Blutspur verlängert wird, aber am Ende dann trotzdem die Leiche liegt – in unserem Fall die Kündigung des Vertrages. Es sind also die Vermittlerinnen und Vermittler gefragt, die für die Kundensituation passendste Lösung im Gespräch herauszufinden.

Es sind aber auch die Versicherungsunternehmen mehr denn je gefragt, die eigenen bestehenden Lösungen noch stärker zu hinterfragen. Denn die Anforderungen der potenziellen Kundinnen und Kunden sind heutzutage andere als vor 20 oder 30 Jahren.

Die Menschen wollen heute bei Abschluss wissen, was mit dem Vertrag passiert, wenn besondere Lebens- und Berufsabschnitte auftreten – und diese Lösungen müssen realistisch betrachtet funktionieren und „lebensnah“ wirken, nicht nur „lebensbegleitend“.

 

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